Landeszeitung Lüneburg: Europa hat das Zeug zum Vorbild -- Dr. Heumann, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitsüpolitik, zur Situation des alten Kontinents.
Lüneburg (ots)
US-Außenministerin Hillary Clinton rief Ende 2011 "Amerikas pazifisches Jahrhundert" aus. Die finanziell klamme, militärische Hypermacht will ihren Blick auf die asiatische Wachstumsregion lenken. Was bedeutet das für Europa, das plötzlich vom Zentrum in eine Insellage rückt? Dr. Heumann gibt einen Ausblick.
Fünf Jahrhunderte währte die Vorherrschaft des Westens. Wie groß ist das Verständnis in Europa für die Zeitenwende -- für den Beginn einer asiatisch-pazifischen Ära?
Dr. Hans-Dieter Heumann: Das Verständnis wächst. Dennoch glaube ich, dass man dramatische Begriffe wie Zeitenwende oder asiatisch-pazifische Ära ein bisschen relativieren muss. Ich würde eher von langen Linien reden; Entwicklungen, die sich über lange Zeiträume vollziehen. Und statt eines asiatisch-pazifischen Jahrhunderts sehen wir tatsächlich in erster Linie den Aufstieg Chinas, der neben einer wirtschaftlichen auch eine strategische Bedeutung hat. Werden Vietnam oder Indien die Zukunft prägen? Nein, das wird China sein. Asiatisch-pazifisches Jahrhundert meint natürlich auch die Umorientierung der USA, die allerdings ebenfalls älter ist als die entsprechende Rede von Außenministerin Clinton vor wenigen Wochen. Sie begann vor Barack Obama, verstärkte sich aber mit ihm. Hier ist der persönliche Faktor nicht außer Acht zu lassen: Er wurde auf Hawaii geboren und wuchs in Indonesien auf. Zudem ist es normal, dass eine Weltmacht, die die USA noch sind, ihre Präsenz schon aus nationalem Interesse auch in Asien sichert.
Chinas Comeback als Weltmacht, augenfällig etwa durch den Vormarsch in Afrika löst in Deutschland meist nur Sorge um den Wohlstand aus. Reicht das?
Dr. Heumann: Es ist wahrscheinlich, dass China -- sofern seine Entwicklung ungebrochen weitergeht -- Ende des Jahrzehntes die größte Wirtschaftsmacht der Erde wird. Ist das ein Nachteil für Deutschland, ein Land, das auf globalen Handel orientiert ist? Eher nicht. Die militärischen Fähigkeiten Chinas werden sich 2025 dem amerikanischen Niveau nähern. Dann werden beide Staaten militärisch auf dem Pazifik präsent sein, wo mit die wichtigs"ten Handelswege verlaufen. Nicht mal die USA betrachten dies als bedrohlich, spricht doch Obama selbst von einem friedlichen Aufstieg Chinas. Recht haben Sie aber bezogen auf die Wahrnehmung von Chinas Aufstieg im Westen. Schon Thukydides hatte in seinem ,,Peloponnesischen Krieg" geschrieben, dass es neben der tatsächlichen Bedrohung auch auf die Angst, also die Wahrnehmung des Gegners, ankommt. Hier ist es beruhigend, dass ein Mann wie Henry Kissinger betont, dass China in der Vergangenheit keinen Imperialismus entwickelt hat, wohl aber die Interventionen "westlicher Mächte erleben musste. Noch ist offen, wie Washington China wahrnehmen wird -- eher als Konkurrent, wie führende Republikaner fordern -- oder als Partner, wie manche Demokraten hoffen. Aufgaben gibt es genug, die beide Mächte zusammen angehen können -- von der Finanzkrise bis zum Klimaschutz. Gemessen werden muss China künftig an seiner Bereitschaft, Verantwortung bei der Lösung internationaler Konflikte zu übernehmen -- etwa in den Fällen Syrien und Iran.
Trotz offenem Meinungsbild zieht Washington Truppen aus Europa ab. Verliert die NATO an Bedeutung?
Dr. Heumann: Jüngst waren erstmals bei einer Münchner Sicherheitskonferenz zwei US-Minister vor Ort -- der Verteidigungsminister und die Außenministerin. Beider Botschaft lautete, dass die Europäer in der US-Wahrnehmung eben nicht an Bedeutung verloren haben, in Obamas Worten: Europa bleibt der Partner der ersten Wahl. Der Abzug zweier Brigaden, die in Afghanistan und Irak eingesetzt werden, mindert Europas Stellenwert nicht. Auf wen soll Europas gesunkenes Gewicht denn übergehen? Auf die neuen Gestaltungsmächte Brasilien, Indien oder Saudi-Arabien? Diese Mächte sind noch nicht fähig, internationale Konflikte zu lösen. Von daher behält der Nordatlantikpakt seine Bedeutung. Es ist weniger ein Bedeutungsverlust festzustellen als vielmehr die Chance, das Verhältnis zwischen Europa und den USA ins Gleichgewicht zu bringen im Sinne der Zwei-Pfeiler-Theorie Kennedys. Erstmals drängten die USA in den neunziger Jahren bei den Balkan-Kriegen darauf, Verantwortung abzugeben; im Libyen-Konflikt gelang es ihnen. Ein ausgeglichenes Verhältnis setzt aber ein handlungsfähiges Europa voraus. Belegen Balkan- und Libyen-Krieg, dass der Versuch, Deutschland in eine große Schweiz zu verwandeln, die zwar Geschäfte macht, aber keine Verantwortung übernimmt, scheitern muss?
Dr. Heumann: Sie spielen auf die Enthaltung Deutschlands bei der Abstimmung über die UN-Resolution zu Libyen an. Das machte überdeutlich, dass es sicherheitspolitischer Kriterien bedarf, die der Diplomatie ein Gerüst einziehen. In Deutschland liegt eine Besonderheit vor: Wir haben eine Parteiendemokratie. Auch die Außenpolitik unterliegt sehr viel stärker parlamentarischer Meinungsbildung als das etwa in Frankreich und den USA der Fall ist. Das ist allerdings ein Grund mehr, eine nationale Sicherheitsstrategie zu entwerfen.
Ist es dazu notwendig, dass die Politiker das reflexartige Verteufeln des Denkens in machtpolitischen Dimensionen ablegen? Ich denke da auch an die Reaktion auf die Rede des damaligen Bundespräsidenten Köhler.
Dr. Heumann: Wir müssen streng unterscheiden zwischen strategischem und machtpolitischem Denken. Strategisch würde ich definieren als den Versuch, Ziele und Mittel in Einklang zu bringen. Das würde eine nationale Sicherheitsstrategie leisten. Bisher haben wir nichts, was über die einzelnen Ressorts hinausweist. Bei der Definition der Inte"ressen ist es völlig legitim, die Wirtschaft in den Blick zu nehmen. Insofern war die damalige Diskussion über die Aussage Köhlers völlig unverständlich, dass für ein Land wie Deutschland mit einer derartigen Außenhandelsorientierung der Einsatz des Militärs für die Sicherung der Handelswege erwogen werden müsse. Zumal die Freiheit der Handelswege als Ziel auch in den verteidigungspolitischen Richtlinien der Hardthöhe steht. Machtpolitisch wird Deutschland noch lange Zeit die Schatten der Vergangenheit berücksichtigen müssen. Man kann in der Griechenland-Krise sehen, wie eine als zu stark empfundene deutsche Dominanz Gegenkräfte auf den Plan ruft.
Eine Konkurrenz um Ressourcen lebt wieder auf wie zu Zeiten des Kolonialismus. Aufsteigernationen stellen westliche Leitideen vom Klimaschutz bis zur Abrüstung in Frage. Wie sehr ähnelt das 21. dem 19. Jahrhundert?
Dr. Heumann: Nur in Teilen. Wir haben jetzt eine multipolare Welt mit neuen Akteuren. Bei der jüngsten Klimakonferenz in Südafrika konnten wir erleben, dass Debatten um Rohstoffe und Klimaschutz unter dem Sicherheitsaspekt geführt werden und dass es zu neuen, überraschenden Allianzen kommt -- etwa, wenn sich Afrika auf die Seite Europas schlägt. Konflikte, die sich im 19. Jahrhundert zu Kriegen auswuchsen, werden heute in multilateralen Foren wie der G-8 oder der G-20 beigelegt.
Mit dem Bau von Häfen in Pakistan und Burma und einem Kanal in Thailand sowie dem Ausbau der Flotte wandelt sich China zur Seemacht. Wird der Pazifik zum Kriegsschauplatz?
Dr. Heumann: Das glaube ich nicht. Die Territorialkonflikte bestehen seit langem und eskalierten nur selten. Chinas Präsenz auf den Meeren ist ebenso Ausdruck nationaler Interessen wie die US-Präsenz.
Aber es wird nicht einfach sein, zwei starke Flotten wie die Chinas und Japans auf so engem Raum zu dirigieren, ohne dass es zu Reibereien kommt...
Dr. Heumann: Das sind Spekulationen angesichtes eines längeren, friedlichen Aufstiegs Chinas, der belegt, dass Peking vorsichtig und nicht imperialistisch agiert.
Ist das der entscheidende Unterschied zu 1913? Damals hieß es, die Weltmacht Großbritannien und der Aufsteiger Deutschland seien viel zu verflochten, um sich zu bekriegen. Heute wird das von den USA und China behauptet.
Dr. Heumann: Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den USA und China ist sehr viel dramatischer als damals die zwischen Großbritannien und Deutschland. China ist der größte Gläubiger eines hochverschuldeten Landes. Das ist eine beiderseitige Abhängigkeit. Zudem vermehrt die Globalisierung Chinas Optionen. Ihre Währung litt in der Krise nicht, sie engagieren sich verstärkt außerhalb der USA.
Was muss Europa tun, um in der neuen Welt noch Gehör zu finden?
Dr. Heumann: Zunächst mal muss man betonen, dass der amerikanisch-europäische Handel immer noch das größte Volumen hat. Die Handelsströme verlagern sich also nur langfristig. Wenn Europa in der Lage ist, die Finanz- und Verschuldungskrise zu bewältigen, was eine Voraussetzung ist, um manche Regionen Europas wieder wettbewerbsfähig zu machen, kann Europa sogar eine Vorbildfunktion erlangen. Etwa für Länder wie die USA oder Japan, die höher verschuldet sind als Europa. Es kommt aber nicht nur auf die wirtschaftlichen Faktoren an. Auch die Ratingagenturen bewerten immer häufiger das politische Verhalten der Regierungen. Also die Frage, ob Europas Regierungen in der Lage sind, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Gelingt es, in Europa eine Art Wirtschaftsregierung und in Frankreich eine Stabilitätskultur zu installieren, sind das nicht zu unterschätzende Fortschritte. Ich schließe nicht aus, dass Europa aus der Krise als handlungsfähigerer Akteur herauskommt und dadurch mehr Gehör findet.
Reicht es, nur die Euro-Krise zu lösen oder muss sich Europa militärisch mehr Muskeln zulegen? Während Asiens Flotten wachsen, schrumpfen die Europas?
Dr. Heumann: Das ist die spannendste Frage überhaupt. Wird der Kontinent die Erfahrung, dass ihn mehr Europa aus der Finanzkrise zog, auf andere Bereiche übertragen? Etwa den der Sicherheitspolitik. Das ist nicht nur eine Frage der militärischen Fähigkeiten, bei denen Europa noch lernen muss, diese besser aufeinander abzustimmen. Dies ist eine Frage des politischen Willens. Zieht Europa diese Lehre aus der Krise, wird es weiter Gehör finden.
Wird China mit wachsendem Wohlstand immer westlicher oder bleibt das Konzept eines offenen Marktes mit einem geschlossenen politischen System erfolgreich?
Dr. Heumann: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat Georges Soros gesagt, dass es keine "unsichtbare Hand" gibt, die den Kapitalismus lenkt, dass es also verschiedene Formen des Kapitalismus gibt. Ich vermute aber, dass eine erfolgreiche Volkswirtschaft auf lange Sicht auch davon lebt, dass sie dezentral organisiert ist, dass die Führung Macht abgibt. Ich glaube aber nicht, dass China verwestlicht. China geht seinen eigenen Weg und wehrt sich gegen äußere Einflüsse. Pekings Priorität ist der Wohlstand der Bevölkerung, nicht eine Hegemonie im asiatisch-pazifischen Raum. Das Interview führte Joachim Zießler
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