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Landeszeitung Lüneburg: Mehr als nur eine Wahrheit in Syrien/ Orient-Experte Professor Meyer kritisiert Verurteilung des Assad-Regimes im vom Ausland geschürten Bürgerkrieg

Lüneburg (ots)

Der oppositionelle Syrische Nationalrat vertrat in Moskau die Position, in Syrien laufe eine Revolution ab; der Kreml hingegen erkennt nur Interessengegensätze. Wer hat recht?

Prof. Dr. Günter Meyer: Beide, da es auf die Perspektive ankommt, die man einnimmt. Ursprünglich gab es in Syrien einen friedlichen Protest, der vom Regime mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde. Inzwischen eskaliert die Gewalt in einen innersyrischen Bürgerkrieg, der vom Ausland angeheizt wird. Auf der einen Seite steht ein Regime, das mit seinen übermächtigen Streitkräften und seinem Geheimdienst um die Machterhaltung kämpft. Und dabei nach wie vor von einem sehr großen Teil der Bevölkerung unterstützt wird. Auf der anderen Seite finden wir ein breites Spektrum der Gegner Assads, das von gemäßigten Oppositionellen über Deserteure der syrischen Streitkräfte bis hin zu kriminellen Banden und islamistischen Terroristen reicht. Diese Aufständischen sind heillos zerstritten, werden aber aus dem Ausland massiv mit Waffen, Geld und durch militärische Ausbildung unterstützt.

Erlebt Syrien den Endkampf eines blutrünstigen Diktators gegen sein Volk oder einen religiösen Konflikt?

Prof. Meyer: Es geht sowohl um die Machterhaltung von Baschar al-Assad als auch um einen sich zunehmend an religiösen Linien entwickelnden Bürgerkrieg. Wobei das religiöse Element vor allem aus dem Ausland in den säkularen Staat getragen wird.

Welche Rolle spielen Katar und Saudi-Arabien bei der Unterstützung sunnitischer Aufständischer?

Prof. Meyer: Die beiden konservativen sunnitischen Regime nehmen mit ihren Petrodollars eine Schlüsselrolle ein. Sie liefern nicht nur über die Türkei die Waffen für die Kämpfer, sondern auch das Geld, mit dem einerseits die Aufständischen finanziert werden, andererseits Angehörige der syrischen Streitkräfte zum Desertieren bewegt werden. Dahinter steckt die geostrategische Zielsetzung, die sunnitische Achse gegenüber den Schiiten zu stärken. Letztendlich läuft dies auf einen Stellvertreterkrieg gegen den Iran hinaus. Teheran ist der wichtigste Verbündete der schiitischen Alawiten in Syrien, der schiitischen Bevölkerungsmehrheit im Irak und der Hisbollah im Libanon. Gelingt es, das Assad-Regime zu stürzen, wird die schiitische Achse in der Region mit dem Iran als Mentor geschwächt.

Ist die Aussage der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad glaubwürdig, dass El-Kaida-Gruppen in Syrien Anschläge verüben?

Prof. Meyer: Dies wird durch vielfache Berichte aus Syrien und anderen arabischen Ländern belegt. Nach der US-Invasion im Irak hatte Damaskus den Transit von El-Kaida-Kämpfern in den Irak unterstützt. Diese folgen jetzt dem Aufruf von El-Kaida und kämpfen nach dem Abzug der US-Truppen gegen das "nicht-islamische" Regime, wie sie die Alawiten verunglimpfen. Unterstützt werden sie dabei durch radikale sunnitische Islamisten aus dem Libanon, Libyen, Algerien und anderen arabischen Ländern.

Welche Rolle spielen in dem Konflikt die geostrategischen Interessen der USA, der Türkei und Russlands?

Prof. Meyer: Den USA geht es darum, einen alten Gegner loszuwerden. Dahinter stecken auch Interessen des israelischen Verbündeten: Da der Iran über Syrien Waffen an die Hisbollah im Libanon liefert, könnte ein Sturz Assads den Nachschub unterbinden. Bisher ist Washington aber nur bereit, Kommunikationsmittel an die Aufständischen zu liefern, keine Waffen. Und dies aus gutem Grund: Die Sorge ist groß, dass Waffen letztlich in die Hände von Dschihadisten und El-Kaida-Kämpfern fallen. Die konservative sunnitische Regierung in Ankara ist ebenfalls daran interessiert, diesen schiitisch alawitischen Fremdkörper zu beseitigen. Die säkulare, linke Opposition wirft der Regierung Erdogan sogar vor, die beiden Piloten des abgeschossenen Kampfjets, dessen Mission offensichtlich die Austestung der syrischen Reaktionsfähigkeit war, für seine pan-islamischen Träume geopfert zu haben. Ein türkischer Einmarsch in Syrien ist allerdings extrem unwahrscheinlich. Dagegen sprechen innenpolitische Widerstände, die hohe Kampfkraft der syrischen Streitkräfte und die kurdische Drohung, in diesem Fall Anschläge in Ostanatolien zu verüben. Zwar ist der syrische Hafen Tartus Russlands einziger Flottenstützpunkt im Mittelmeer, aber seine strategische Bedeutung ist begrenzt, weil dort mitnichten eine ganze Flotte stationiert ist. Entscheidend ist die über 40 Jahre währende Partnerschaft des Kreml mit der sozialistischen Baath-Partei und die Milliarden Rubel, die Moskau mit Waffenverkäufen verdient hat. Russland sperrt sich vehement gegen eine ausländische Intervention bei seinem wichtigsten Verbündeten in der Region. Die russische Regierung verweist auf den großen Rückhalt des Regimes in der Bevölkerung. Rund 50 Prozent der Syrer dürften noch zu Assad stehen -- natürlich die Alawiten, die die Führungsschicht bilden, aber auch die Christen, die fürchten, nach einer Machtübernahme durch radikale Sunniten verfolgt zu werden. Ebenso sind breite Teile der sunnitischen Händlerschichten in Aleppo und Damaskus gegen den Sturz Assads, wie sich aus den jüngsten -- im Westen nahezu totgeschwiegenen -- Wahlergebnissen herauslesen lässt. Sie profitierten von der neoliberalen Politik der letzten zwölf Jahre in Damaskus und fürchten das Chaos eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs.

Erstmals desertierte ein General, der ein langjähriger Vertrauter Assads war, dazu der Botschafter im Irak. Gibt es Absetzbewegungen in der Elite?

Prof. Meyer: Nach türkischen Angaben sind bereits 20 Generäle und weitere 100 hochrangige Offiziere desertiert. Doch der Fall von Brigadegeneral Manaf Tlass ist etwas Besonderes: Der General war der Einzige aus dem Führungszirkel, der Assad mit Vornamen ansprechen durfte. Er entstammt einer der einflussreichs"ten sunnitischen Familien in Mittelsyrien. Sein Vater war 30 Jahre Verteidigungsminister unter Hafiz al-Assad. Das besondere Vertrauensverhältnis zerbrach allerdings, als Tlass zu Beginn der Aufstände versuchte, zwischen Rebellen und Regierungstruppen zu vermitteln. Von Assad kaltgestellt, nutzte er nun die Chance zur Flucht. Der abtrünnige syrische Top-Diplomat in Bagdad ist ebenfalls Sunnit. Es wird die Gefahr eines Bruchs der bisher paktierenden sunnitischen und alawitischen Eliten sichtbar. Das Misstrauen zwischen beiden Schichten wächst -- und dies schwächt das Regime signifikant.

Warum werden Massaker wie die in Homs oder Hula im Westen reflexartig dem Regime zugeschrieben?

Prof. Meyer: Anfangs ging die Gewalt ausschließlich vom Regime aus. Die Medien konzentrierten sich zu Recht auf die ungeheure Brutalität des Regimes. Leider haben sie diese Position -- parallel zur Politik der NATO-Staaten -- beibehalten, obwohl die von radikalen Aufständischen ausgeübte Gewalt inzwischen dem Regime in nichts nachsteht. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung verzerrter und gefälschter Informationen spielt das bei London ansässige ,,Syrian Observatory for Human Rights". Von dort werden einseitige, oft gefälschte und übertriebene Berichte sowie zum Teil auch Videos aus früheren Kämpfen im Libanon, Irak und Iran als vermeintliche Gräueltaten des Assad-Regimes verbreitet. Eine ganz besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der in Katar ansässige TV-Sender Al-Dschasira. Dieser hat sich mit objektiven Berichten aus den Aufständen in Tunesien, Ägypten und Libyen im Westen großes Renommee erworben. Aber in dem Moment, in dem sich Katar gegen Syrien positionierte, wandelte sich die Berichterstattung: Es wird so massiv gefälscht, dass Al-Dschasira-Mitarbeiter in Beirut ihre Rücktritte erklärt haben. Hier wie auch in den meisten westlichen Medien wurde bei der Bombardierung von Homs unterschlagen, dass sich dort viele El-Kaida-Kämpfer verschanzt hatten, die Zivilisten als Schutzschilde missbrauchten sowie alawitische Einwohner kidnappten, folterten und töteten. Jürgen Todenhöfer hat dies sehr treffend als "Massaker-Marketing" charakterisiert. So wurde vor Wochen von Islamisten ein Bus gestoppt, die alawitischen Passagiere aussortiert und ermordet -- die Leichen wurden im Video als Opfer des Regimes präsentiert. Auch das Massaker von Al-Hula mit mehr als 100 Opfern, unter ihnen viele Kinder, wurde von Anfang an Assads marodierenden Schabiha-Milizen in die Schuhe geschoben. Inzwischen klassifiziert die UNO das Blutbad als ungeklärt. Tatsächlich wurden dort aber die Mitglieder zweier regimetreuer, alawitischer Großfamilien von Isla-mis"ten ermordet -- worüber in Deutschland fast nur die FAZ berichtete.

Droht nach dem Sturz Assads der Zerfall des Vielvölkerstaates an konfessionellen Linien?

Prof. Meyer: Syrien ist mit arabischen und kurdischen Bewohnern kein Vielvölkerstaat, gleichwohl aber religiös zersplittert. Deshalb ist die Gefahr groß, dass es in der Nach-Assad-Ära zu ethnischen Säuberungen und Konflikten wie im Irak kommt.

Die UN-Beobachterkommission ist gescheitert. Macht sich Kofi Annan zum Komplizen der Bürgerkriegsgegner, wenn er erneut Zeit verschwendet in Damaskus?

Prof. Meyer: Der Plan von Annan war hervorragend. Er ist nur systematisch von den Golfstaaten und den USA torpediert worden. Er ist in erster Linie an der fehlenden Kompromissbereitschaft der Aufständischen gescheitert, die von ihrer Forderung des Sturzes von Assad nicht ablassen. Eine Lösung mit relativ wenig Blutvergießen wird es nur geben, wenn unter Einbeziehung des Iran verhandelt wird, wie das Annan jetzt nachdrücklich fordert.

Wenn in Syrien ein sunnitisch-schiitischer Stellvertreterkrieg tobt, ist es nicht noch zwingender, dass der Westen sich einmischt, um den Einfluss der wahhabitischen Golf-Monarchien zurückzudrängen?

Prof. Meyer: Die USA und die Golf-Monarchien ziehen in Syrien an einem Strang. Von daher würde eine stärkere Intervention des Westens den ultra-konservativen Wahhabiten vor allem helfen, ihren Einfluss in Syrien zu stärken. Lediglich Washingtons Widerstreben, die Aufständischen mit Waffen zu versorgen, um nicht indirekt El-Kaida aufzurüsten, wird in Saudi-Arabien und Katar nicht geteilt. Die Frage, was nach Assad kommt, wird zurückgestellt. Die Konsequenzen eines Sturzes von Assad werden nicht zu Ende gedacht. Man hofft, den Zusicherungen der Islamisten glauben zu können, dass Alawiten und Christen auch nach Assads Sturz friedlich in Syrien leben können. Berücksichtigt man aber die Erfahrungen aus dem Irak und Ägypten, muss man davon ausgehen, dass die Islamisten nach der ganzen Macht greifen werden, wenn sie die Chance dazu haben. Das Interview führte Joachim Zießler

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