Landeszeitung Lüneburg: Die im Schatten sieht man nicht
Dr. Thomas Beyer von der Nationalen Armutskonferenz warnt vor wachsender neuer Wohnungsnot
Lüneburg (ots)
Noch nie war es so schwer, in Groß- und Universitätsstädten bezahlbaren Wohnraum zu finden. Forscher sprechen von einer neuen Wohnungsnot. Und es wird noch schlimmer: Nach Prognosen des Pestel-Instituts in Hannover fehlen in fünf Jahren 400.000 Wohnungen, wenn der Mietwohnungsbau nicht mindestens verdoppelt wird. Dr. Thomas Beyer, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, fordert: "Das Menschenrecht auf Wohnung muss im Grundgesetz verankert werden."
Laufen Großprojekte wie der Berliner Hauptstadtflughafen aus dem Ruder, ist die Empörung groß. Wünschen Sie sich ein entsprechendes Interesse auch für die neue Wohnungsnot?
Dr. Thomas Beyer: Allerdings. Vor allem von der Bundesregierung, namentlich dem zuständigen Minister Peter Ramsauer. Es ist auch nicht nachvollziehbar, warum der Haushaltsausschuss des Bundestags die Gelder für das sinnvolle Programm Soziale Stadt um 10 Millionen auf 40 Millionen Euro gekürzt hat. In der Regierungsvorlage waren nämlich ursprünglich 50 Millionen Euro für das Jahr 2013 vorgeschlagen. Im Gegensatz zu vielen Regierungspolitikern haben die Bürger den Ernst der Lage erkannt. Mit Initiativen wie der Gentrifizierungsmap im von Wohnungsnot besonders betroffenen München machen sie auf die Situation aufmerksam. Sie zeigen auf diesem Stadtplan beispielsweise auf, wo die Mieten explodieren und Menschen wegen Luxussanierungen aus ihren Nachbarschaften verdrängt werden. Viele von ihnen machen in Bezirksausschüssen und auf Bürgerversammlungen dagegen mobil.
Ist die neue Wohnungsnot ein verstecktes Elend, weil es keine offizielle Statistik gibt?
Dr. Beyer: Großteils ja. Ausgerechnet in Deutschland, wo scheinbar alles statistisch erhoben wird, gibt es keine amtliche Wohnungsnotfallstatistik. Das heißt, wir können nur schätzen, wie viele Menschen auf der Straße, in Notunterkünften und in unangemessenem Wohnraum leben. Oder aber auch, wie vielen die Wohnungslosigkeit droht. Als wohnungslos gilt nämlich nicht nur, wer unter der Brücke liegt. Laut BAG Wohnungslosenhilfe - ein Mitglied der Nationalen Armutskonferenz - waren im Jahr 2010 schätzungsweise 345.000 Menschen von einer dieser Formen der Wohnungslosigkeit betroffen. Aber es gibt auch einen zweiten Aspekt der Wohnungsnot: Viele Haushalte müssen ihren Lebensstandard erheblich einschränken, weil die hohen Mieten den Großteil ihres Einkommens buchstäblich auffressen. So hat das Pestel-Institut im vergangenen Jahr ermittelt, dass in Deutschland rund 4 Millionen Sozialwohnungen fehlen. Nur jeder fünfte finanzschwache Haushalt habe derzeit eine Chance auf einen solchen Wohnraum. Kein Wunder, schließlich verschwinden laut derselben Expertise Jahr für Jahr 100.000 Sozialwohnungen vom Markt, beispielsweise weil sie aus der Mietpreisbindung herausfallen. Im Gegenzug kommen aber nur 30.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr hinzu.
Was könnte die von Fachleuten seit Langem geforderte Wohnungsnotfallstatistik leisten und warum gibt es sie noch nicht?
Dr. Beyer: Sie wäre das für Praktiker und Sozialwissenschaftler dringend benötigte Datenmaterial, an dem sie ihre Arbeit ausrichten könnten. Welche Alters- und Bevölkerungsgruppen sind besonders betroffen? In welchen Lebenslagen kommt es häufig zu Wohnungslosigkeit? Welche Form von Wohnungslosigkeit herrscht vor? Diese Fragen würden erörtert und Gegenmaßnahmen könnten gezielter ergriffen werden, nicht zuletzt im präventiven Bereich. Warum es diese Statistik nicht gibt, ist mir schleierhaft.
Droht der Bundesregierung ein jähes Erwachen, wenn sie glaubt durch Formulierungskniffe im Armutsbericht die Armut in der Bundesrepublik herunterrechnen zu können?
Dr. Beyer: Selbstredend. Diese Verschleierungstaktik erinnert ein bisschen an das durchschaubare Vorgehen kleiner Kinder, die beim Versteckspiel die Hände vor ihre Augen halten, weil sie glauben, nur weil sie nichts sehen, könnten auch andere sie nicht sehen. Mit ihrem Ablenkungsmanöver verspielt die Bundesregierung Respekt und Vertrauen, die die Bürger ihr entgegenbringen sollen.
Werden die Verarmungsgefahren infolge von Niedriglohnjobs und Hartz IV unterschätzt?
Dr. Beyer: Ja, denn die Mini-Löhne von heute sind die Mini-Renten von morgen. Mit Mini-Jobs, Leiharbeit und Werkverträgen wird ein drängendes Problem mehr schlecht als recht in die Zukunft verlagert, wo es auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels zu einem großen gesellschaftlichen Problem werden wird, wenn wir nicht rechtzeitig gegensteuern.
Greifen die klassischen sozialstaatlichen Instrumente noch angesichts von immer mehr Jobs, die ihre Inhaber nicht mehr ernähren?
Dr. Beyer: Es gibt sie durchaus, die Instrumente, mit denen soziale Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Sie werden bis jetzt nur nicht umgesetzt. Gesetzlicher Mindestlohn, Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, kostenlose Gesundheitsvorsorge für Bedürftige, kostenlose Bildung, die bereits erwähnte Wohnungsnotfallstatistik und nicht zuletzt ein Steuersystem, in dem Reiche angemessen beteiligt werden, zählen zu den dringend benötigten Koordinaten eines modernen Sozialstaats.
Verlagern Konzepte wie "Fordern und Fördern" die Verantwortung für ihre Armut auf die Schultern der Armen?
Dr. Beyer: Wenn der Schwerpunkt auf dem Fordern statt auf dem Fördern liegt, auf jeden Fall. Dass die Bundesregierung zuletzt die Fördermittel für die Arbeitsmarktinstrumente zusammengestrichen hat, spricht für eine Entwicklung, in der das Fördern in den Hintergrund tritt. Ein Beispiel: Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe hat errechnet, dass den Jobcentern im Jahr 2010 bundesweit 6,35 Milliarden Euro für Maßnahmen zur Arbeitsförderung zur Verfügung standen. Im Jahr 2012 waren es nur noch 3,78 Milliarden Euro.
Welche psychosozialen Ursachen sieht die Bundesregierung für Wohnungslosigkeit und welche sind in Ihren Augen die Ursachen?
Dr. Beyer: Die Ursachen sind aus meiner Sicht - für die Bundesregierung kann ich nicht sprechen - vielfältig: Arbeitslosigkeit, Schulden, Scheidung, gescheiterte Selbstständigkeit, Tod des Partners und Suchterkrankungen zählen zu den häufigsten Gründen, weshalb Menschen wohnungslos werden. Das Erschreckende an alldem ist: Eines oder mehrere dieser Schicksalsschläge können fast jeden von uns treffen.
Wäre eine Ankurbelung des sozialen Wohnungsbaus nicht auch eine hervorragende Konjunkturspritze?
Dr. Beyer: Unbedingt. Übrigens wäre sie das nicht nur für die Baubranche, sondern für die Wirtschaft insgesamt. Dann könnten Menschen, die für eine Sozialwohnung nicht mehr so viel Miete zahlen müssen wie für konventionellen Wohnraum, ihr Geld für verschiedene andere Leistungen und Konsumgüter ausgeben - von der ihnen abverlangten Altersvorsorge ganz zu schweigen.
Das Interview führte Joachim Zießler
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