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Landeszeitung Lüneburg: ,,Schlusstrich ist nicht in Sicht" -- Interview mit Uwe Neumärker, Direktor des Holocaust-Mahnmals

Lüneburg (ots)

Hitler kämpfte im Dreißigjährigen Krieg oder war der erste Mensch auf dem Mond: Antworten von Schülern auf die Frage nach dem Nationalsozialismus. Droht 80 Jahre nach der Machtübernahme der Schlussstrich des Vergessens? Uwe Neumärker, Direktor des Holocaust-Mahnmals, befürchtet dies nicht: "Das Erinnern wird sich wandeln, aber der Völkermord an den Juden behält eine zentrale Rolle."

Gibt es eine globale Angleichung der Erinnerungskultur an den Holocaust oder geht Deutschland einen Sonderweg?

Uwe Neumärker: Ich würde nicht von einem deutschen Sonderweg reden. Jedes Land geht seinen eigenen Weg, wobei Deutschland eines der Länder mit einer Vielzahl historischen Orte der Verbrechen ist. Das wurde in den 1990er-Jahren deutlich bei der kontroversen Debatte um die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Trotz einiger Widerstände entschied man sich, mitten in unserer Hauptstadt ein Symbol für unsere Verantwortung zu errichten und dies mit einer Ausstellung zu ergänzen. Auch in diesem Fall präsentierte sich die deutsche Erinnerungskultur als Zusammenspiel zwischen bürgerschaftlichem Engagement, staatlicher Erinnerung und Initiativen aus den Ländern. Insofern geht Deutschland einen besonderen Weg, aber keinen Sonderweg.

Ist die Errichtung von Denkmälern für nationale Schande nicht etwas Besonderes? In Nachbarländern stehen eher Siegerdenkmäler...

Neumärker: Die Zeit für Siegerdenkmäler ist in Deutschland mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu Ende gegangen. Der Bruch mit der Vergangenheit ist tief, weil die Verbrechen, die im deutschen Namen begangen wurden, einmalig sind. Es hat ja auch lange gedauert, bis Deutschland sich zu seiner Schuld bekannte und die Vergangenheit aufarbeitete. Mittlerweile wird international anerkannt, wie vielfältig die deutsche Gedenkkultur ist. Natürlich gibt es auch in anderen Ländern Denkmäler für Opfer. Aber es ist schon etwas Besonderes, dass Deutschland in seiner Hauptstadt bisher drei derartige Denkmäler errichtet hat: für die ermordeten Juden Europas, für die verfolgten Homosexuellen und für die ermordeten Sinti und Roma. Im vergangenen Jahr hat sich der deutsche Staat zudem entschlossen, an der Tiergartenstraße 4 einen Gedenk- und Informationsort für die Opfer der sogenannten Euthanasie -- der "T4-Aktion" -- zu errichten. Denkmäler haben in Deutschland immer auch ein aufklärerisches Element. Wir müssen vor allem jungen Menschen vermitteln, warum wir diese Denkmäler errichtet haben, damit wir -- so platt es klingt -- aus der Erinnerung etwas für Gegenwart und Zukunft lernen.

Welche Stadien durchlief die Erinnerungskultur in Deutschland?

Neumärker: Nach Ende des Krieges geschah lange Zeit nichts. Das Beschweigen der Taten durch die Täter. Das Verschweigen des Leidens durch überlebende Opfer. Pauschal wurden viele NS-Gesetze ja erst in den 1990er-Jahren aufgehoben. Gruppen, etwa die Sterilisierten und die sogenannten "Asozialen", litten auch in der jungen Bundesrepublik unter Stigmatisierung. Der durch die Nationalisten verschärfte Homosexuellenparagraph 175 galt unverändert bis 1969. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse waren zwar das Fanal der Sieger, doch die deutsche Bevölkerung hat dies kaum angenommen. Das Verdrängen der Schuld herrschte vor. Gegenwärtig wurde die Vergangenheit dann wieder durch den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem und den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-1965. Einen Schub brachte dann die Abrechnung der 68er-Generation mit ihren Vätern sowie die TV-Serie "Holocaust" 1979. Die US-Produktion löste eine Welle der Empathie aus, brachte damit einen Stein ins Rollen, der unter anderem zu der Bürgerinitiative führte, die 1986/87 den Bau eines Denkmals für die ermordeten Juden forderte. Zugleich schwang das Pendel an anderer Stelle zurück. Der Historiker Ernst Nolte legte in Frageform den Eindruck nahe, der Nationalsozialismus selbst wie auch der Vernichtungskrieg im Osten und die Ermordung der Juden seien nichts weiter als eine Art präventiver Reaktion der deutschen Eliten gewesen -- geboren aus der Angst vor dem Stalinschen Terror. Der nachfolgende Historikerstreit bewegte die Öffentlichkeit. Mit dem Fall der Mauer gewann die Debatte um die Notwendigkeit eines Denkmals für die ermordeten Juden an Schwung. Angesichts spürbarer Zurückhaltung, ja Ängsten im Ausland gegenüber einem wiedervereinigten Deutschland wuchs der Druck zur Selbstverständigung über die eigene Vergangenheit. Und die Debatte um das Holocaust-Mahnmal war eine über das deutsche Selbstverständnis -- ähnlich wie die über den Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin. Am Ende war es dann der Souverän, also das Volk -- vertreten durch den Bundestag --, das für dieses Denkmal votierte.

Wie groß ist die Gefahr einer ritualisierten Erstarrung des Gedenkens?

Neumärker: Gedenken an festgelegten Tagen birgt immer die Gefahr einer Ritualisierung. Aber ich glaube, dass mittlerweile ein breiter Konsens in der Gesellschaft besteht über die Erinnerung an die Verbrechen und die Opfer. Ein Beleg dafür sind die unzähligen Initiativen aus der Bevölkerung, beispielsweise die Stolperstein-Kampagne. Das darf man nicht geringschätzen, weil so auch weitgehend verdrängte Kapitel ans Licht geholt werden -- etwa im Moment über den Vorstoß, ehemalige Zwangsarbeiterlager auf dem Gelände des früheren Flughafens Tempelhof als solche zu kennzeichnen. Auch bei dem beschlossenen Denkmal für die ermordeten Psychiatriepatienten ging die Initiative von einem Runden Tisch aus. Wie unterscheidet sich das Erinnern in Italien und Japan -- den anderen beiden Kriegsverlierern -- vom deutschen? Neumärker: Eine gute Frage. Im Falle Japans gibt es -- je nachdem, wie nationalistisch die jeweile Regierung ist -- immer wieder Schwierigkeiten mit Korea und China, weil japanischen Kriegsverbrechern in Schreinen gehuldigt wird oder Verbrechen wie die Zwangsprostituierung von Koreanerinnen als "Trostfrauen" und die Massenvergewaltigungen und Morde in Nanking abgestritten werden. In konservativen Kreisen hat man den Verlust nationaler Größe offensichtlich nicht verwunden. In Italien wird die Aufarbeitung des Faschismus häufig überlagert von Diskussionen über sogenannte Vergeltungsverbrechen von Deutschen in Italien. An Orten von Massakern wie den Ardeatinischen Höhlen im Süden Roms oder dem Ort Marzabotto gibt es Denkmäler. Desweiteren wird eine Debatte geführt über die italienischen Militärinternierten, die von Berlin lange nicht als NS-Opfer anerkannt und entsprechend nicht entschädigt wurden. Aber zumindest wurde nun nach der Arbeit einer deutsch-italienischen Historikerkommission beschlossen, diesen Opfern ein Denkmal zu setzen.

Jede Generation eignet sich die Vergangenheit neu an. Wird der Nationalsozialismus auch wieder von der Unterhaltungskultur ausgeschlachtet werden?

Neumärker: Das war noch nie anders. Es gibt kein Jahr, in dem nicht mehrere größere Filme zu diesem Thema gedreht werden -- von "Stalingrad" über "Rommel" bis zu "Das Leben ist schön". Trotz allen Kitsches sind derartige populäre Bearbeitungen dennoch geeignet, dieses Thema in einer breiteren Öffentlichkeit zu verankern. Persönlich finde ich viele Verfilmungen nicht besonders gelungen. Ein positives Gegenbeispiel wäre aber der Film über das "Adlon-Hotel". Sind Bücher wie die "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell Vorboten eines Wechsels in die Täter-Perspektive? Neumärker: Natürlich es es reizvoll, zu versuchen, sich in die Täter hineinzuversetzen. Ich habe das Buch nicht gelesen, obwohl Peter Eisenman, der Architekt des Holocaust-Denkmals, es mir empfohlen hat. Literarisierungen dieser Art mag ich nicht, vielmehr setze ich auf populäre Sachbücher.

Sind Maßnahmen wie das Anlegen eines Facebook-Profils für ein Holocaust-Opfer geeignet, um Jüngeren das Thema näher zu bringen?

Neumärker: Ich bin Historiker, kein Pädagoge -- zudem kein Facebook-Nutzer, insofern halte ich mit einem Urteil zurück. Wenn ein solches Profil aber gut gemacht ist, kann es -- wie auch im Falle von Anne Frank -- dazu führen, dass junge Menschen sich mit dem Thema beschäftigen. Und das wäre gut. Unsere Stiftung hat auch eine Website erstellt über jugendliche Opfer des Nationalsozialismus, die sich gezielt an jugendliche Nutzer wendet. Wichtiger wird dieses, weil der Nationalsozialismus für Jugendliche extrem weit weg ist. Schon der Mauerfall oder der 17. Juni 1953 erscheinen Heranwachsenden so weit weg wie für uns die Schlesischen Kriege.

Können die beiden unterschiedlichen Erinnerungskulturen der deutschen Staaten verschmolzen werden?

Neumärker: In den Generationen, die beispielsweise noch gelernt haben, dass die DDR ausschließlich in der antifa"schis"tischen deutschen Tradition stehe, wahrscheinlich nicht mehr. Ein Beispiel: Am Wochenende war ich im ehemaligen KZ Buchenwald, das sowohl als Ort nationalsozialistischen als auch stalinistischen Terrors eine Rolle spielt. Und da fand ich in der 1995 konzipierten Dauerausstellung -- die nun überarbeitet werden soll -- bemerkenswert, dass das Gedenken zu DDR-Zeiten keine Rolle spielte. Vereinbar sind die bundesrepublikanische und die DDR-Gedenkkultur zwar ohnehin nicht, aber das Problem erledigt sich. Die Generationen, die im wiedervereinigten Deutschland aufwachsen, erleben die Widersprüche nicht mehr.

Belegt die wiederbelebte Beschäftigung mit Flucht, Vertreibung und Bombenangriffen, dass die kollektive Erinnerung sich wandelt?

Neumärker: Die Themen Flucht und Vertreibung waren zumindest in der frühen Bundesrepublik ohnehin zentral. Eine verstärkte Inblicknahme von Deutschen als Opfern ist nicht verwerflich, solange man klar Ursache und Wirkung benennt: Erst gab es den deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieg, dann Flucht, Vertreibung und deutsche Teilung. Man darf auch nicht vergessen, dass es auch in den Ostgebieten, die Deutsche schließlich als Heimat verloren, Juden sowie Sinti und Roma verfolgt und Psychiatriepatienten umgebracht wurden. Diese dunkle Seite wird in der Erinnerungskultur an die ehemaligen deutschen Ostgebieten bislang praktisch nicht berücksichtigt.

Wird die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus in 50 Jahren noch diesen breiten Raum einnehmen?

Neumärker: Ich denke, dass diese Erinnerung weiterhin eine zentrale Rolle spielen wird. Auch in der Hoffnung -- und hier bin ich optimistisch --, dass Deutschland so zivilisiert wie in den letzten 60 Jahren bleibt. Aber es wird andere Formen des Erinnerns geben. Wie künftige Generationen sich dieses Thema aneignen werden, ist eine spannende Frage.

Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

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Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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