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Landeszeitung Lüneburg: Die Bürde der Unberechenbarkeit
Roderich Kiesewetter (CDU) fordert Ausarbeitung einer nationalen Strategie, um Vertrauen in Deutschland zu stärken

Lüneburg (ots)

Die Schuldenkrise ist eine schwierige Zeit für die Entwicklung einer gemeinsamen EU-Außenpolitik: Konflikte zwischen Partnern brechen auf, der Rotstift kürzt die Mittel. Roderich Kiesewetter (CDU), Präsident des Reservistenverbandes, sieht in der Krise dennoch eher die Chance, die militärischen Kräfte Europas ergänzend zu bündeln. Notwendig sei dafür in Deutschland aber die Formulierung nationaler Interessen sowie die Ausarbeitung einer Strategie.

Wie verlogen ist die Sicherheitspolitik Deutschlands, das zwar als Moralweltmeister Auslandseinsätze scheut, aber fleißig Waffen exportiert?

Roderich Kiesewetter: Sie ist überhaupt nicht verlogen. Zunächst mal muss Deutschlands Rolle als Rüstungsexporteur relativiert werden, landen wir doch nach anderen Studien auf Platz sechs oder sogar zehn. Grund ist, dass Deutschland alles als Rüstungsgut deklariert, was militärisch verwendet wird. Also auch der Mercedes G, Kartenmaterial oder eine Tafel, die zu Schulungszwecken genutzt wird. Andere Staaten sprechen dagegen nur dann von Rüstungsexporten, wenn es sich um klassische Güter wie Waffen und Munition handelt. Zum zweiten sind deutsche Güter sehr hochwertig und teuer. Eine Fregatte etwa ist unter einer halbe Milliarde Euro kaum zu bekommen -- schlägt sich also entsprechend in der Statistik nieder. Und der dritte Aspekt ist, dass rund drei Viertel unserer Rüstungsexporte in NATO- oder EU-Staaten geht. Neuerdings ergänzen wir unsere werte- und interessengeleitete Politik, indem wir versuchen, Partner zu stabilisieren. Da die Bereitschaft, Soldaten zu entsenden, in unserer Gesellschaft extrem gering ist, geht dies bei Partnern, denen wir Regionalkompetenz zur Lösung von Konflikten zutrauen, wie etwa Katar, nur über Waffenverkäufe. Über 40 Jahre lang war Deutschland Nehmer von Sicherheit, es war für uns selbstverständlich, dass uns andere unterstützten. In den 1990er-Jahren bis hin zum Bosnien-Krieg mussten wir dann lernen, dass wir zum Unterstützer von Sicherheit werden müssen. Wir waren auf andere angewiesen, jetzt sind andere auf uns angewiesen.

Wie kann Europa im Zeichen des Spardiktats sicherheitspolitisch noch handlungsfähig bleiben?

Kiesewetter: Das Spardiktat bietet eine große Chance, wenn wir drei Herausforderungen bewältigen: Wie sichern wir unseren Wohlstand? Wie erlangen wir Energieversorgungssicherheit für Europa? Wie werden wir glaubwürdig in der Sicherheitspolitik? Wir müssen vertrauenswürdig bleiben, aber zugleich Zähne zeigen können, wenn es notwendig ist. Die 500 Millionen Europäer müssen sich in Konkurrenz mit 750 Millionen Amerikanern, drei Milliarden Asiaten und einer Milliarde Afrikanern aufstellen. Wir können es uns nicht länger leisten, 27 -- demnächst 28 -- verschiedene Streitkräfte und Planungsprozesse in der EU zu bewahren. Wir können es uns auch nicht länger leisten, 27 Landstreitkräfte, 26 Luftwaffen und 23 Marinen zu haben. Also müssen wir ein Instrument, das wir in der Sozial- und Wirtschaftspolitik verwenden, auf die Sicherheitspolitik übertragen. Nämlich die "ständige strukturierte Zusammenarbeit". Das heißt, dass wir zum Beispiel nur ein Drittel der EU-Staaten brauchen, um die Finanztransaktionssteuer zu kreieren. Warum sollte es nicht möglich sein, auch nur mit einem Drittel der Europäer militärische Fähigkeiten zusammenzulegen? Wir bekommen keine europäische Armee, wenn Brüssel versucht, dies überzustülpen. Wir bekommen sie aber, wenn einzelne Staaten ihre Fähigkeiten miteinander teilen. So verzichten die Niederlande oberhalb der Bataillonsebene auf Truppenführung in den Bereich Artillerie und Panzer. Diese sind komplett Deutschland unterstellt in dem Vertrauen, dass wir keinen Missbrauch treiben. An wen lehnt sich Deutschland an? Wir können unser Prinzip "Breite vor Tiefe" -- also der Versuch, auf alle denkbaren unterschiedlichen Herausforderungen vorbereitet zu sein -- dauerhaft nicht verlässlich aufrechterhalten. Wir stoßen finanziell und bei der Durchhaltefähigkeit angesichts langer Einsätze schnell an Grenzen. Hier zwingt uns der Rotstift in Europa, unsere Fähigkeiten ergänzend zu bündeln, weil ansonsten Verteidigungsetats nicht strategisch verplant würden.

Mangelt es Berlin für ein Konzept der sich ergänzenden Fähigkeiten an Disziplin, denkt man an die Libyen-Krise und das ewige Awacs-Hickhack?

Kiesewetter: Dies ist keine Frage fehlender Disziplin, weil es ja durchaus gelang, den Verteidigungshaushalt zu stabilisieren. Es fehlt vielmehr an strategischer Tiefe. Bis 1990 hat Deutschland keine eigenen Interessen formuliert. Es hieß immer, deutsche Interessen seien europäische oder NATO-Interessen. Tatsächlich haben EU und NATO aber lediglich eine gemeinsame Schnittmenge der unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglieder. Vertrauen wird uns als großem Land Europas nur entgegengebracht, wenn die Nachbarn wissen, woran sie sind. Deshalb brauchen wir eine Strategie. Diese muss auf einer breiten parlamentarischen Mehrheit fußen, zugleich aber auch Flexibilität zulassen. Gefragt ist also kein 50-seitiger Katalog, sondern wie bei Briten und Amerikanern wenige Blätter, die die Grundsätze deutscher Sicherheitspolitik skizzieren. Diese Grundsätze müssen der Bevölkerung erklären, wozu wir Soldaten einsetzen und wozu wir militärische Gewalt anwenden. Die Partner müssen erkennen, was unsere außen- sowie sicherheitspolitischen Instrumente sind und in welchen Regionen wir uns engagieren. Warum war Afghanistan für uns interessant und ist es jetzt Mali? Bisher hatte die deutsche Politik einen Verhaltensautomatismus: Sobald die internationale Gemeinschaft einen möglichen Militäreinsatz diskutiert, heißt es in Berlin: "Nicht mit der Bundeswehr!" Nach einem Vierteljahr ist die Bundeswehr dann doch im Einsatz, weil es notwendig ist. Dieser gesellschaftliche Reflex liegt auch daran, dass im letzten Jahrzehnt nur 20 Prozent der Männer und 10 Prozent der Abiturienten Wehrdienst geleistet haben. Hier gibt es ein Wahrnehmungsdefizit: das Militärische ist nicht mehr erklärt.

Krankt die Aufarbeitung dieses Wahrnehmungsdefizits an einer Tabuisierung nationaler Interessen? Bundespräsident Köhler trat zurück, obwohl er nur das wiederholte, was schon im Weißbuch festgelegt worden war: der notwendige Schutz der Transportwege der Exportnation Deutschland?

Kiesewetter: Oder was Volker Rühe schon 1992 sagte. Nun, diese Debatte war wohl nur der Rücktrittsauslöser in einem Bündel von Motiven. Tatsächlich hat sich Deutschland aus verständlichen historischen Gründen gescheut, nationale Interessen zu definieren. Es herrschte der Glaube vor, dass eine Kultur der Zurückhaltung -- die ich für sehr richtig halte -- ausreichen würde. Aber unsere Partner wollen wissen, was wir gemeinsam machen können, um unsere Versorgungswege zu sichern und den Frieden zu bewahren. Und diesem Anspruch müssen wir noch gerecht werden. Eine andere Frage ist, ob der Zuschnitt der Ministerressorts in Zukunft dem ganzheitlichen Anspruch einer derartigen Strategie noch gerecht wirdEUR.EUR.EUR.

Braucht Deutschland einen nationalen Sicherheitsrat?

Kiesewetter: Das kommt darauf an, wie man es definiert. Die Herausforderung liegt woanders. Wo kriegen wir angesichts des demographischen Wandels die jungen Leute her für THW, für Feuerwehr, Polizei, das Rote Kreuz und auch die Bundeswehr? Dieses Problem erzwingt eine föderale Sicherheitsarchitektur und -strategie, die eher geeignet ist, junge Leute dazu zu bewegen, Dienst für die Gesellschaft zu leisten. Wir werden mit Sicherheit in wenigen Jahren wieder eine Pflichtdienstdebatte führen, wenn es uns nicht gelingt, den Bundesfreiwilligendienst weiter auszubauen, und Anreize zu schaffen, nicht nur in der Pflege, sondern in den anderen genannten Bereichen Dienst zu tun. Diese Anreize könnten ein Mehr an Anerkennung durch Arbeitgeber sein, aber auch die Option, früher in den Ruhestand wechseln zu können, wenn man einige Lebensjahre seinem Land gedient hat.

Stichwort: "Nicht mit der Bundeswehr!" Muss Deutschland im Rahmen einer europäischen Sicherheitspolitik sein Konzept der Parlamentsarmee aufgeben?

Kiesewetter: Im Gegenteil. Wir müssen darauf hinwirken, dass das Europäische Parlament irgendwann zuständig ist für die Einsätze einer europäischen Armee. Dazu muss das Europaparlament anders aufgestellt sein als heute. Es darf nicht nur über das Haushaltsrecht verfügen, sondern bedarf auch der Kontroll- und Mitbestimmungsrechte. Nachdenken müssen wir allerdings über die Stimmengewichtung: Für einen luxemburgischen Parlamentssitz brauchen sie 80EUR000 Stimmen, für einen aus Deutschland 800EUR000. Wir haben also allgemeine, freie und geheime Wahlen, aber keine gleichen Wahlen. Das muss man austarieren. Die Parlamentsbeteiligung bei Einsätzen ist richtig, weil sie Streitkräfte und Bevölkerung verzahnt. Dies ist noch wichtiger bei einer Berufs- bzw. Freiwilligenarmee. Der Parlamentsvorbehalt wirft allerdings eine andere Frage auf: Eigentlich hat sich Deutschland verpflichtet, im Krisenfall innerhalb von 72, respektive 96 Stunden Truppen verlegebereit oder bereits im Einsatzgebiet haben zu können. Das geht in Deutschland mit dem jetzigen Parlamentsbeteiligungsverfahren nicht, das rund 10 Tage zur Abarbeitung einer entsprechenden Vorlage braucht. Wird hier der Bundesregierung nicht mehr Spielraum gegeben, bleibt Deutschland eine Krisen-Nachsorgemacht, die immer erst auftritt, wenn unsere Partner das Einsatzgebiet bereits geprägt haben.

Braucht es dazu nicht eine stetige Sicherheitsdebatte? Bisher segnet der Bundestag alle paar Monate meist ohne größere Debatten Einsatzmandate der Bundeswehr ab.

Kiesewetter: Sie sprechen mir aus dem Herzen. Seit 1994, seit dem von mir begrüßten Urteil des Bundesverfassungsgericht zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr haben wir rund 225 Debatten über Einsatzmandate im Bundestag gehabt, aber lediglich sechs übergreifende, strategische Punkte berührende Debatten. Derzeit laufen zehn Mandate der Bundeswehr. Die Debatten konzentrieren sich jeweils sehr auf das engere Einsatzgebiet, bis hinein in den operativ-taktischen Bereich. Was aber fehlt, ist die übergreifende Debatte: Warum sind wir da? Wie lange sind wir da? Wie ist das Ziel? Wie bekommen wir das hin? Es wäre kein immenser Aufwand, wenigstens einmal im Jahr eine übergreifende sicherheitspolitische Generaldebatte im Bundestag zu führen. Wenn uns das gelingt, wäre dies ein guter Beitrag zur strategischen Kultur, weil dann die Parlamentarier auf Augenhöhe mit außerparlamentarischen Gruppen über diese Fragen diskutieren können.

Sicherheitspolitik ist nach Ihren eigenen Worten in Deutschland "kein sexy Thema". Kippt das Thema in Zeiten der Euro-Krise endgültig hintenüber?

Kiesewetter: Ich sehe die Krise eher als Chance, weil wir das Thema jetzt aufgreifen müssen, wenn wir nicht wollen, dass der Rotstift noch stärker in die Verteidigungshaushalte schneidet. Nur, wenn wir die 33 Milliarden des Verteidigungsetats sinnvoll verwenden, bleiben wir auch für die USA ein wichtiger Partner. Aus Sicht Washingtons haben die USA den Auftrag Europa erfüllt. Jetzt erwarten sie zu Recht Rückendeckung von uns. Und die Europäer haben ein großes Interesse daran, dass die USA den westlichen Fußabdruck im asiatischen Raum hinterlassen. Auch, weil es um die Konkurrenz von Systemen geht: Eine diktatorisch regierte Marktwirtschaft oder unsere durch Aufklärung und Französische Revolution gestählte Demokratie, die zwar oft längere Verfahren hat, dafür aber Freiheit in Frieden und Wohlstand ermöglicht.

Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

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Werner Kolbe
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