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Landeszeitung Lüneburg: Aus Ruanda lernen
Dr. Lars Brozus: Schutzverantwortung für Zivilisten ist ein Fortschritt, aber noch verbesserungsfähig

Lüneburg (ots)

Im April 1994 begann der Völkermord in Ruanda. In wenigen Wochen wurden mehr als 800 000 Tutsi aber auch missliebige Hutu ermordet. Die Welt sah tatenlos zu. Um derartiges künftig zu verhindern, stimmten die Vereinten Nationen 2005 der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect; R2P) zu. Die neue Norm wird nicht flächendeckend umgesetzt, denkt man etwa an den seit drei Jahren in Syrien tobenden Bürgerkrieg. Dennoch ist die Schutzverantwortung "ein erstaunlicher Fortschritt", meint Dr. Lars Brozus, Wissenschaftler an der Berliner Denkfabrik SWP. Der Schutz der Menschenrechte über Grenzen hinweg finde seine Grenzen aber an großer Macht des betreffenden Staates. So sei ein militärisches Eingreifen etwa auf der Krim sehr unwahrscheinlich.

Hat die Weltgemeinschaft die angemessenen Konsequenzen aus dem Völkermord in Ruanda gezogen?

Dr. Lars Brozus: Auf der Ebene der Konzepte hat die Welt schon überraschend weitgehende Antworten gefunden. Auf der operativen Ebene hingegen verläuft die Umsetzung nicht so wie von Menschenrechtsverteidigern erhofft. Nach der Jahrtausendwende wurde das Konzept "Responsibility to Protect" (R2P) entwickelt. Diese Idee der Schutzverantwortung besagt nichts anderes, als dass die internationale Gemeinschaft auch gegen den Willen einer Regierung intervenieren kann, um Menschenrechte zu schützen, wenn 1. ein Völkermord verübt wird oder 2. ethnische Säuberungen durchgeführt werden; 3. Kriegsverbrechen oder 4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden. Das ist ein erstaunlicher Fortschritt, der so nach dem Völkermord von Ruanda nicht zwingend zu erwarten war. Auf dem Papier hat die Welt also gut reagiert, etwas anders sieht es in der Realität aus. Das hat seinen Grund darin, dass Gewaltanwendung zum Schutz von Zivilbevölkerung nur vom Sicherheitsrat autorisiert werden kann. Damit kommt den fünf ständigen Sicherheitsratsmitgliedern, die mit einem Veto-Recht ausgestattet sind, eine besondere Bedeutung zu. So kamen im Falle Syriens noch nicht mal Resolutionen zur Verhängung von Sanktionen gegen das Assad-Regime zustande, weil Russland und China ihr Veto einlegten. Moskau und Peking argumentieren mit den Erfahrungen bei der Intervention in Libyen im Jahr 2011, wo der Sicherheitsrat zwar ein Eingreifen zum Schutz der Zivilisten in Bengasi billigte, die Resolution aber vom Westen zum Sturz des Gaddafi-Regimes missbraucht worden sei. Eine durchgehende, bruchlose Umsetzung der R2P durch die Staatengemeinschaft war aber auch nicht zu erwarten.

Warum versagte vor 20 Jahren das internationale Krisenmanagement?

Dr. Brozus: Das erklärt sich aus dem damaligen politischen Umfeld. Zunächst kam es in den frühen 1990er-Jahren zu einer regelrechten UN-Euphorie. Die Weltorganisation war lange durch den Ost-West-Konflikt blockiert. Dessen Ende schürte die Erwartung, dass die UN nun die globale politische Steuerung übernehmen würde. Tatsächlich kam es zu ersten Initiativen, Menschenrechte auch über Grenzen hinweg zu schützen. Die erste erfolgreiche war 1991 die Einrichtung einer Schutzzone für irakische Kurden. Es folgte die UN-Mission in Somalia, die aus der Perspektive des wichtigsten Truppenstellers, den USA, scheiterte. Parallel dazu zerfiel Jugoslawien, was damals einen großen Teil der Aufmerksamkeit auf sich zog - das Geschehen in einem relativ kleinen, relativ isolierten Staat in Zentralafrika rückte in den Hintergrund. Dabei meldete die UN-Mission in Ruanda sogar Anzeichen für die Vorbereitung eines systematischen Völkermordes an die Zentrale in New York. Es gelangten Macheten und andere Waffen ins Land. Die Medien hämmerten den Menschen Propaganda ein, die die Minderheit der Tutsi herabsetzten. Zugleich gab es einen bewaffneten Aufstand gegen das Hutu-Regime. Doch die UN-Zentrale reagierte nicht angemessen. Sie erteilte der Mission vor Ort die Order, weiter nur zu beobachten, weil kein Mandat für aktives Eingreifen vorlag. Der spätere UN-Generalsekretär Kofi Annan leitete 1994 das UN-Department, das für die Ruanda-Mission zuständig war. Später bezeichnete er die damaligen Entscheidungen als sein größtes Versagen. Daher treibe er die Bemühungen voran, aus diesem Versagen zu lernen, mit der Konsequenz, dass das Konzept des Schutzes von Menschenrechten über Grenzen hinweg entwickelt wurde. Die UNO kann aber nur so viel umsetzen, wie die Mitgliedstaaten bereit sind, mitzutragen. Und im April 1994 fehlte es schlicht an der Bereitschaft, sich in Ruanda zu engagieren. Mit einer derartig exzessiven Gewalt, mit einem derart schnell und brutal exekutierten Völkermord rechnete allerdings auch kaum jemand.

Hat die Ermordung von US-Soldaten auf Peacekeeping-Mission in Somalia wenige Monate zuvor, die Bereitschaft untergraben, die Blauhelme in Ruanda mit einem robusten Mandat auszustatten?

Dr. Brozus: Ja, der damalige US-Präsident Bill Clinton hatte eingeräumt, dass die Bilder der getöteten US-Soldaten, die durch Mogadischu geschleift wurden, den Willen zu weiteren UN-Missionen schwächten. Denn um UN-Missionen innenpolitisch vermitteln zu können, müssen sie überzeugend begründen, warum sie eigene Soldaten gefährden, um Fremde zu schützen.

Bedeutet das Patt im Sicherheitsrat bezüglich eines Schutzverantwortungs-Einsatzes in Syrien bereits das Scheitern des Konzepts?

Dr. Brozus: Ich würde nicht von einem Patt sprechen, weil der Sicherheitsrat bis auf Russland und China schärfere Resolutionen gegen Damaskus befürwortet. Insofern lautet das Verhältnis 13:2. Das bedeutet aber nicht das Scheitern des Konzeptes der Schutzverantwortung, ganz im Gegenteil. Man muss sich nur vor Augen führen, wie sehr diese neue politische Norm mit anderen, für die Staatenwelt grundlegenden Normen kollidiert - wie die Souveränität und das Nichteinmischungs-Gebot bei inneren Angelegenheiten. Es kann daher nicht überraschen, dass es über die Anwendung und Auslegung dieser neuen Norm Streit gibt. Interessanter ist vielmehr, dass der Kern der Norm, der Schutz vor Massengewalttaten, unstrittig ist. Soweit die Theorie. In der Praxis, bei der Umsetzung - etwa in Libyen - tauchten zwei Dilemmata auf: Erstens zeigte es sich, dass es für einen dauerhaften Schutz der Bevölkerung vor schwersten Menschenrechtsverletzungen notwendig sein kann, das Regime zu beseitigen. Mit dieser Argumentation setzte die NATO ihren Einsatz fort, nachdem das primäre Ziel, der Schutz der Bürger von Bengasi, erreicht war. Genau diese Frage, ob ein Schutz nur in einer konkreten Situation angestrebt wird oder auf Dauer, ist allerdings bislang nicht beantwortet.

So wie der Westen das Dilemma 2011 in Libyen auflöste, bleibt im Ergebnis, dass Russland dem Westen Wortbruch vorwirft und die Sicherheitslage vor Ort eher noch schlechter ist. Ist ausgerechnet das schlagzeilenträchtige, militärische Bein des Konzeptes das schwache?

Dr. Brozus: Da sprechen Sie das zweite Dilemma an: Selbst, wenn man die Frage beantwortet hat, was eigentlich unter dem Schutz der Bevölkerung zu verstehen ist, bleibt offen, wie dieser zu erreichen ist. In Libyen gelang es zwar, die Bürger in Bengasi zu schützen und die Spitze des Regimes zu stürzen. Dennoch erwies es sich als alles andere als einfach, eine langfristige Verbesserung der Situation zu erreichen. Das weist auf ein sehr viel tiefgründigeres Problem hin, mit dem sich Außenpolitik auseinandersetzen muss: Analysiert man die großen Interventionen der letzten zwanzig Jahre, wird die Begrenztheit der Erfolge sichtbar. Fast nirgendwo wurde eine Entwicklung angestoßen, bei der man mit hinreichender Sicherheit sagen könnte, es sei ein selbsttragender Friedensprozess im Gange. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen sind ernüchternd: Danach dauert es mindestens 20 Jahre, bis Institutionen so gefestigt sind, dass sie einen Friedensprozess tragen können. 2011 stand Libyen auf keiner Liste mit den Staaten, in denen Massengewalttaten zu erwarten sind. Jetzt steht es darauf, weil nach dem Wegfall des Gaddafi-Regimes viele Konflikte in der libyschen Gesellschaft aufbrachen. Eine paradoxe Folge der Intervention ist, dass das Risiko für Gewalt gegen Zivilisten nicht geringer wird, sondern steigt. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass derartige Interventionen nicht notwendig und richtig sein können. Hier liegt noch viel Arbeit vor der Staatengemeinschaft, Instrumente zu schmieden, mit denen nicht nur kurzfristige Stabilisierung, sondern langfristige Stabilität zu erreichen ist.

In Zeiten wachsender Rivalität zwischen den USA einerseits und China sowie Russland andererseits könnte die Selbstlähmung des Sicherheitsrates ein Dauerzustand werden...

Dr. Brozus: ... Das wäre eine Quasi-Rückkehr des Ost-West-Konfliktes. Diese Möglichkeit besteht, aber es wäre natürlich keine wünschenswerte Entwicklung.

Ist Europa willens und in der Lage Schutzverantwortung in seinem Umfeld zu übernehmen?

Dr. Brozus: R2P rückt auf den Schirm der EU. So versucht das Europäische Parlament, dieses Konzept in die EU-Außenpolitik zu integrieren. Tatsächlich kann Europa sehr viel mehr für den Schutz der Menschenrechte über Grenzen hinweg tun, als das bisher der Fall ist. So ist es sinnvoll, dass sich die EU ein spezifisches Frühwarnsystem schafft, um die Gefahr möglicher Massengewalttaten zu erkennen.

Auf dem Schirm hatte der Kreml jetzt eine ganz eigene Interpretation der Schutzverantwortung, denn eine solche nahm er für die Annektion der Krim in Anspruch. Was kann das Konzept vor Missbrauch schützen?

Dr. Brozus: Das ist ein ziemlicher durchsichtiger Versuch des Missbrauchs. Denn keiner der vier genannten Tatbestände traf auf der Krim zu. Und selbst wenn, kann der Einsatz bewaffneter Gewalt zum Schutz der Bevölkerung nur nach Absegnung durch den Sicherheitsrat erfolgen.

Im Klimawandel drohen neue Konflikte um knapper werdende Ressourcen. Wie umfangreich ist das Instrumentarium struktureller Prävention, um Massengewalttaten im Vorfeld zu verhindern?

Dr. Brozus: Das ist momentan die interessanteste Entwicklung. Aus der Erkenntnis heraus, wie viel Probleme militärische Interventionen nach sich ziehen, wird nach Wegen gesucht, diese überflüssig zu machen. Strukturelle Prävention arbeitet mit sehr langfristig wirkenden Maßnahmen, die einen Ausgleich bei gesellschaftlichen Konflikten ermöglichen, die ansonsten Gesellschaften zerklüften würden. Also solche ethnischer, ökonomischer, kultureller oder religiöser Natur. Ein Beispiel operativer Prävention wäre Hilfe im Vorfeld von Wahlen, die häufig Auslöser von Gewalt sind. Dabei wird nicht nur darauf geachtet, dass der Wahlprozess als solcher sauber verläuft, sondern auch, dass in den Medien keine Gruppe stigmatisiert wird.

Findet Schutzverantwortung grundsätzlich vor großer Macht ihre Grenzen? Wer würde beispielsweise für die Krimtataren in die Bresche springen, wenn Moskau sich entscheiden würde, sie erneut zu vertreiben?

Dr. Brozus: Gute Frage. In einem solchen Szenario wäre die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Eingreifens zum Schutz dieser Bevölkerungsgruppe gering, schon allein weil der Sicherheitsrat nicht zustimmen würde. Die Wahrscheinlichkeit für die Verhängung von Sanktionen wäre dagegen recht hoch. Jede internationale Intervention muss sich eben nicht nur die Kosten- und Nutzenfrage stellen, sondern auch ihre Folgen bedenken. Insofern gilt es, im Sinne Max Webers zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik zu unterscheiden. 1994 sprach allerdings objektiv wenig gegen einen robusteren internationalen Einsatz, um den Völkermord in Ruanda zu beenden.

Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

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Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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