Landeszeitung Lüneburg: "Bildung ist das beste Verhütungsmittel"- Interview mit Dr. Reiner Klingholz zur UN-Prognosen zum Bevölkerungswachstum
Lüneburg (ots)
Im Jahr 2050 wird die Weltbevölkerung knapp 200 Millionen Menschen mehr zählen als bisher angenommen, prognostizieren die UN. Besonders stark soll die Bevölkerung wachsen, wo sich der Migrationsdruck für Europa aufbaut: Im Nahen Osten und in Nordafrika dürfte die Bevölkerung bis 2050 um ein Drittel wachsen, im Rest von Afrika auf mehr als das Doppelte. Dr. Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Institutes für Bevölkerung und Entwicklung, ist skeptisch: "Unter diesen Bedingungen würde sich der Lebensstandard weiter verschlechtern und die Lebenserwartung verkürzen. Die UN-Szenarien beruhen auf allzu unsicheren Annahmen."
Die Vereinten Nationen haben ihre Prognosen nach oben korrigiert: Vier Milliarden Menschen mehr als heute werden Ende des Jahrhunderts auf der Erde leben. Schwarzmalerei oder realistische Annahme?
Dr. Reiner Klingholz: Die Korrektur kommt zustande, weil die Kinderzahlen vor allem in Afrika, aber auch in Ländern wie Pakistan langsamer zurückgehen als erwartet. So genau weiß das allerdings keiner, denn die Unterschiede in den Kinderzahlen sind sehr gering, sie summieren sich aber über lange Zeiträume auf viele Millionen. Der Trend geht aber mit Sicherheit im Moment in Richtung noch mehr Menschen. Wie es jedoch letztlich in 85 Jahren aussieht, hängt von nicht exakt abzuschätzenden Entwicklungen ab - wie steigender Bildung oder Krisen.
Bei welcher Zahl sehen Sie denn die Weltbevölkerung bis 2100?
Dr. Klingholz: Ich glaube nicht an ein so hohes Wachstum. Dass etwa Uganda, Niger oder Somalia ihre Bevölkerung bis 2100 verfünf- oder versechsfachen, ist absurd. Das ist bei dem heutigen Entwicklungszustand schlicht und einfach nicht zu bewältigen. Auch dass sich Nigeria in Richtung eines Milliardenstaates entwickelt, ist nicht machbar. Bevor das geschieht, gibt es dort riesige Probleme, Krisen, Konflikte, Hungersnöte, die das Wachstum begrenzen. Es sterben dann einfach mehr Leute. Eine andere Möglichkeit ist, dass diese Länder auf einen guten Entwicklungsweg kommen, was zu hoffen wäre. Dann aber sinken die Kinderzahlen von ganz alleine.
Gerade der bevölkerungsreichste Kontinent, Asien, liefert Vorbilder für erfolgreiche Bevölkerungspolitik - etwa China und Thailand. Welche Faktoren sprechen dagegen, dass Afrika den Pfaden folgt?
Dr. Klingholz: China hat eine ziemlich rigorose Bevölkerungspolitik hinter sich. Die wünscht sich kein anderes Land. In Thailand hat die gesellschaftliche Entwicklung dazu geführt, dass die Kinderzahlen von alleine gesunken sind: Mehr Bildung, bessere Jobmöglichkeiten und wachsender Wohlstand haben kleine Familien bewirkt. Thailand ist der Beweis dafür, dass bevölkerungspolitische Zwangsmaßnamen nicht nötig sind. Diese Grundbedingungen haben wir aber in den meisten afrikanischen Staaten nicht. Der Bildungsstand ist der schlechteste auf der Welt, die Gesundheitssysteme sind schlecht, die Arbeitslosigkeit unter den vielen jungen Menschen ist enorm, die Entwicklung kommt viel zu langsam voran. Deshalb liegen die Kinderzahlen noch auf sehr hohem Niveau. Im Moment spricht wenig dafür, dass Afrika dem asiatischen Weg folgt.
Bevölkerungswachstum erleben vor allem Entwicklungsländer, die schon heute ihre Bevölkerung kaum versorgen können. Kommt ein Zeitalter von Verteilungskriegen und neuer Völkerwanderungen?
Dr. Klingholz: In der Tat wächst dort die Bevölkerung am stärksten, wo es den Menschen am schlechtesten geht. Zusätzlich beobachten wir eine wachsende Zahl von gescheiterten Staaten, in denen sich Krisen ausbreiten, weil die Menschen unzufrieden, schlecht versorgt und verzweifelt sind. Sie werden anfällig werden für extreme Vorstellungen. Das sind die Bedingungen, unter denen sich Terrorgruppen wie IS und Boko Haram gut ausbreiten können. Noch mehr Menschen machen die Lösung der Probleme nicht einfacher, das ist ein kritischer Kreislauf, unter dem vor allem die lokale Bevölkerung leidet. Viele, die es sich leisten können, versuchen dieser Lage zu entfliehen. Sie machen sich auf die Wanderung, allerdings überwiegend innerhalb Afrikas. Nur ein sehr kleiner Teil macht sich auf bis nach Europa. Dafür sind gewisse Kenntnisse und ziemlich viel Geld notwendig.
In der Vergangenheit war ein Überschuss junger Menschen oft auch Schwungrad für wirtschaftlichen Aufschwung. Welche Bedingungen müssten geschaffen werden, damit dies wieder gelingt?
Dr. Klingholz: Ein Aufschwung ist nur möglich, wenn für die vielen jungen Menschen Arbeit geschaffen wird. Wenn die jungen Generationen besser ausgebildet werden und höhere Werte schaffen können. Und wenn bei diesem Prozess die Familien kleiner werden. Rückläufige Kinderzahlen, bessere Bildung und mehr Wohlstand drehen dann das Schwungrad der Entwicklung. Kein Land hat sich je gut entwickelt, in dem die Kinderzahlen noch auf dem alten hohen Niveau liegen.
Mit steigender Weltbevölkerung schreitet die Urbanisierung voran: Horrorvision wegen verslumter Megacities oder einzige Chance, ein Übermaß an Naturzerstörung zu vermeiden?
Dr. Klingholz: Städte sind eine große Chance. In Städten sind die Einkommensmöglichkeiten besser, der Bildungsstand ist höher, die Menschen haben kleinere Familien. In Städten gibt es eine kritische Masse aus Unternehmen, klugen Köpfen und Forschungseinrichtungen, die aus Ideen neue Produkte oder Dienstleistungen erfinden. Städte sind der Motor der Entwicklung. Deshalb kommen die Menschen in den armen Ländern ja dorthin, sie nehmen es auf sich, in der Enge von Slums zu leben, weil sie das immer noch besser finden als das karge Leben auf dem Lande. Wenn all diese Menschen als Kleinbauern in den ländlichen Gebieten bleiben würden, müssten sie die letzten Wälder roden und es wäre von der Natur bald nichts mehr übrig. Selbst in Deutschland könnten keine 80 Millionen auf dem Land leben.
Muss Entwicklungshilfe vorrangig den Aufbau funktionierender Gesundheitssysteme leisten, um Seuchenzüge zu vermeiden?
Dr. Klingholz: Gesundheitssysteme sind eine zwingende Voraussetzung für Entwicklung. Allerdings geht es dabei nicht primär um Ebola und Co. Es sterben ja ungleich mehr Menschen an Malaria, Tuberkulose oder Durchfallerkrankungen. Eine Hauptaufgabe der Gesundheitssysteme ist es, die Kinder- und Müttersterblichkeit zu senken. Erst wenn nicht mehr so viele Kinder in jungen Jahren sterben, kommen die Menschen von alleine auf die Idee, über Familienplanung nachzudenken. Die wenigsten wollen tatsächlich sieben oder acht Kinder, sie wollen, dass ein paar überleben, weil sie Arbeitskräfte in der Landwirtschaft brauchen und glauben, Kinder seien für die Altersversicherung nötig. Wo immer es gelungen ist, die Kindersterblichkeit zu senken, gingen etwa zehn Jahre später auch die Kinderzahlen zurück. Die nächste wichtige Entwicklungsinvestition ist Bildung, insbesondere für Frauen, die in diesen Ländern häufig benachteiligt sind. Sobald junge Frauen in die Schule gehen und zwar mindestens zehn Jahre lang, sinken die Kinderzahlen ganz massiv. Diese jungen Frauen haben ganz andere Möglichkeiten ihr Leben zu gestalten. Deshalb planen sie auch ihre Familie und nehmen Kinder nicht als gottgewollten Schicksalsschlag hin. Sie können ein eigenes Einkommen erwirtschaften. Diese Frauen bekommen ihre Kinder später, die Abstände zwischen den Geburten werden größer, all das wirkt sich positiv auf die Gesundheit von Mutter und Kind aus und sie bekommen weniger Kinder. Bildung ist das beste Verhütungsmittel.
Würden Ausbildungsinitiativen in den Herkunftsländern und die Schaffung legaler Zuwanderungswege für Arbeitsmigranten den Wanderungsdruck vermindern?
Dr. Klingholz: Bildung ist unerlässlich. Sie ist die Grundlage für eine Entwicklung. Wie sollen sich die vielen jungen Menschen im globalen Wettbewerb behaupten, wenn sie nicht einmal richtig lesen und schreiben können? Wie sollen sie mit der Revolution in der Informations- oder Biotechnologie Schritt halten? Ohne Bildungsanstrengungen droht diesen Ländern das Chaos. Aber zu glauben, damit würde der Wanderungsdruck sinken, ist grundfalsch. Denn mehr besser gebildete Menschen haben überhaupt erst die Möglichkeit, über eine Auswanderung nachzudenken, sie zu organisieren und zu finanzieren. Es sind ja nicht die armen Schlucker aus den afrikanischen Dörfern, die sich auf den Weg nach Europa machen, sondern Mitglieder der Mittel- oder Oberschicht.
Ist das Versenken von Schleuserbooten im Mittelmeer nutzloser Aktionismus?
Dr. Klingholz: Das Schiffeversenken löst kein einziges langfristiges Problem. Es kann vielleicht die Anreize senken, sich auf solch eine gefährliche Reise zu machen. Ich befürchte allerdings das Versenken erhöht nur die Preise der Schlepperbanden. Die finden andere Wege.
Muss die EU das Dubliner System schleunigst durch eine fairere Verteilung ersetzen, um das Schüren von Ressentiments in den reichen Staaten zu erschweren?
Dr. Klingholz: Eine faire Verteilung innerhalb der EU, die auch den jeweiligen Arbeitsmarkt und die Wirtschaftslage der Länder berücksichtigt, wäre sicher sinnvoll. Aber die Widerstände in einzelnen Ländern sind so hoch, dass ich wenig Chancen für ein solche Regelung sehe. Solidarität sieht anders aus.
Wird Europa in der Flüchtlingspolitik den Werten gerecht, für die es steht?
Dr. Klingholz: Auf dem Papier hat die Flüchtlings- und Asylpolitik einen hohen Anspruch. Wir sollten Menschen in Notlagen helfen, davon haben schließlich Deutsche in der Vergangenheit auch profitiert. Das ist eine humanitäre Grundlage unserer Verfassung. Aber wir stecken in einem Dilemma. Wenn die Flüchtlingszahlen weiter steigen, und das kann passieren, wenn sich die Krisen in Afrika und dem Nahen Osten ausweiten, dann stößt Europa mit seiner humanitären Politik an Grenzen. Wir müssen akzeptieren, dass es dann keine befriedigende Lösung für alle Seiten gibt. Wir können weder die Grenzen dicht machen, noch können wir alle Boote versenken. Wir können aber auch nicht alle Menschen aufnehmen, die den Wunsch haben, in Europa ein friedliches Leben zu führen. Es gibt in dieser Frage keine Lösung.
Hat Europa verinnerlicht, dass die Zuwanderungsfrage die nächsten Jahrzehnte beherrschen wird?
Dr. Klingholz: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Flüchtlingszahlen, aber auch die Zahl der Menschen, die schlicht und einfach Arbeit oder bessere Lebensbedingungen suchen, steigen werden. Dafür gibt es viele Gründe: Die Bevölkerung in Afrika und dem Nahen Osten wächst stark. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen diesen Regionen und Europa ist sehr hoch, ebenso das Einkommensgefälle und das Sicherheitsgefälle. Selbst die ärmsten EU-Staaten Bulgarien und Rumänien haben ein dreimal höheres Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt als Nigeria, ein achtmal höheres als Senegal. In vielen Regionen breitet sich der Terror aus. Mittelfristig dürften auch die Umweltveränderungen, allen voran der Klimawandel, zu mehr Wanderungen beitragen. Diese Entwicklung zeichnet sich seit vielen Jahren ab. Aber Europa hat diese Probleme ausgeblendet. Nun sind sie schwerer zu lösen.
↔Das Interview führte
↔ Joachim Zießler
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