Landeszeitung Lüneburg: "Der Anfang von etwas Schlimmerem" - Interview mit dem Terrorismusexperten Prof. Dr. Joachim Krause
Lüneburg (ots)
Vom IS-Kalifat gelenkte Terrorzellen bringen den Tod nach Europa. Politiker suchen Wege, den Bürgern das verlorene Sicherheitsgefühl zurückzugeben. Frankreich bittet seine EU-Partner um militärischen Beistand. Der Kieler Politologe und Terrorismusexperte Prof. Joachim Krause hat Sorge, dass sich Deutsche und Franzosen entfremden könnten: "Paris neigt zur Überreaktion, Berlin zur Unterlassung."
Eine gemischtnationale Tätergruppe, Sprengwesten, die schwerlich in Frankreich hergestellt worden sein dürften. Folgt auf den Terror der einsamen Wölfe nun der, den die Strippenzieher des Kalifats befehlen?
Prof. Joachim Krause: Genau so sieht es aus. Dieser Anschlag war offensichtlich eine aus der Ferne gesteuerte Kommandoaktion. Und ich fürchte, es wird noch weitere dieser Aktionen geben - ob in Frankreich oder anderswo.
War es vor diesem Hintergrund ohnehin zu riskant, am Länderspiel in Hannover festzuhalten und so letztendlich den Islamisten den Triumph der Absage zu gönnen?
Prof. Krause: Die Absage des Länderspiels war kein Triumph der Islamisten, ein Gemetzel an den Zuschauern wäre für sie ein Triumph gewesen.
Hat Paris angesichts einer vermutlich von der IS-Spitze abgesegneten Auslandsoperation recht, sich im Krieg zu sehen?
Prof. Krause: Der französische Präsident Hollande sieht sein Land im Krieg und diese Aussage muss man ernst nehmen. Es ist nur zu hoffen, dass Paris nicht überreagiert und sich in einen Belagerungszustand hineinredet, der von den Umständen her nicht gegeben ist. Ich kann aber nachvollziehen, dass Hollande so reagiert, doch wir müssen auch analysieren, wie groß die Bedrohung tatsächlich ist. Und das wird sich erst in den kommenden Wochen und Monaten herauskristallisieren.
Nun hat Paris als erster EU-Staat die Beistandspflicht im Falle eines Angriffs eingefordert. Ist dies der Bündnisfall in Zeiten asymmetrischer Kriege?
Prof. Krause: Dieser Aufruf ist auch positiv aufgegriffen worden. Entscheidend ist jetzt, was konkret verabredet und dann umgesetzt wird. Da deuten sich schon große Unterschiede an. Ich befürchte, dass sich am Ende Frankreich und Deutschland entfremden. Alles, was sich nach "Krieg" anhört, stößt in Deutschland schnell auf taube Ohren. Die große Frage wird sein, ob es gelingt, eine deutsch-französische Zusammenarbeit herzustellen, die eine effektive Form der Bekämpfung des Islamischen Staates darstellt. Da liegen deutsche und französische Politiker noch weit auseinander.
Mit dem Krieg gegen den Terror nach 9/11 hat der Westen schlechte Erfahrungen gemacht. Was müsste diesmal anders gemacht werden?
Prof. Krause: Es müsste schon bei der Rhetorik angesetzt werden. Man kann keinen Krieg gegen "den" Terrorismus führen. Terrorismus ist eine Form der Gewaltanwendung, der man nicht den Krieg erklären kann. Damals ging es darum, das Terrornetzwerk al Kaida zu bekämpfen, unter dem Stichwort "Krieg gegen den Terrorismus" wurde viel getan, was sich als falsch herausgestellt hatte. Die gleichen Fehler sollten wir Europäer nicht wiederholen. Aber es wäre ein genauso großer Fehler, die Herausforderung durch den islamistischen Terror kleinzureden, wie es derzeit in Deutschland geschieht, wenn die Anschläge des Islamischen Staates mit denen der Rote Armee Fraktion in den 70er- und 80er-Jahren gleichgesetzt wird.
Wo liegen die Unterschiede?
Prof. Krause: Der Terrorismus der RAF wurde über mehr als zwei Jahrzehnte von weniger als 80 Personen verübt, zu denen noch ein wenige hundert Menschen starkes Sympathisantenumfeld gehörte. Der Islamische Staat hat heute etwa 60 000 Kämpfer und andere dschihadistische Gruppen verfügen über mehr als 100 000 Kämpfer im weltweiten Maßstab. Die Sympathisantenszene geht in die Millionen - das sind völlig andere Dimensionen. Noch mehr als eine politische Überreaktion Frankreichs fürchte ich eine Unterreaktion Deutschlands.
Der Fund des Passes eines syrischen Flüchtlings in Paris wirkt inszeniert. Teil der perfiden Angstkampagne des IS?
Prof. Krause: Das ist möglich. Noch wissen wir allerdings nicht, ob dies inszeniert war oder ob der Täter über den Flüchtlingsstrom eingeschleust worden war. Es gibt mittlerweile aber Hinweise darauf, dass der IS den Flüchtlingsstrom als Tarnung nutzt, um Terroristen nach Mitteleuropa zu schleusen.
Wo muss die Terrorabwehr besser aufgestellt werden oder müssen die westlichen Gesellschaften akzeptieren, in einer Epoche des Terrors zu leben, der nie gänzlich zu verhindern sein wird?
Prof. Krause: Diese Debatte halte ich für sinnlos und teilweise für defätistisch. Es geht nicht um den Terror generell, sondern es geht um den salafistischen Dschihadismus. Diese neue totalitäre Bewegung muss mindestens radikal eingedämmt oder am besten zerstört werden. Dazu brauchen wir eine Strategie zur Zerstörung des Kalifats. Zudem müssen wir Wege finden, um zu verhindern, dass sich junge Leute in unserer Gesellschaft zu salafistischen Dschihadisten radikalisieren. Das ist bei uns schon ein großes Problem, es ist noch viel stärker in Belgien und Frankreich.
Die zweite, dritte nordafrikanische Migrantengeneration ist in Belgien und Frankreich schlecht integriert, bildet so ein Reservoir für den Terror. Ist die Mahnung in Deutschland bereits verstanden worden, dass bei der Zuwanderung schnell von Nothilfe auf echte Einbindung umgeschaltet werden muss?
Prof. Krause: Schnelle Integration ist ganz wichtig, aber wir sollten eines nicht übersehen: Die Hauptprobleme liegen nicht bei uns, sondern im Mittleren und Nahen Osten - einer Region, die außerordentlich gewaltsam geworden ist. In dieser Region üben nicht nur Terroristen Gewalt aus, sondern auch Staaten. Derzeit verhält sich das Baath-Regime in Syrien weitaus gewalttätiger als der IS. Und diese Gewalt erzeugt Gegengewalt. Die arabischen Gesellschaften sind zudem durch einen extremen Jugendüberhang geprägt. In Staaten, wo mehr als 50% der Bevölkerung unter 21 sind und wo junge Menschen kaum berufliche und persönliche Perspektiven haben, muss man sich nicht wundern, wenn einige von ihnen radikal werden. Die traditionellen Gesellschaftsstrukturen in der Region sind nicht in der Lage, diese Probleme zu lösen. Eine der Antworten auf dieses Versagen war eine Politisierung des Islam. In Deutschland können wir nur relativ wenig machen. Wir sollten auf jeden Fall aufhören, Integrationsprobleme zu leugnen oder deren Erwähnung zu tabuisieren. Ich wünsche mir mehr Buschkowskys in der Politik, also Politiker, die, wie der ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Probleme unverblümt benennen und mit Augenmaß Lösungsvorschläge machen.
Manche der von Ihnen angesprochenen Verkrustungen in der Region brachen im "Arabischen Frühling" auf. Hat sich der Westen Versäumnisse geleistet bei der Stabilisierung der Staaten im Umbruch - etwa in Tunesien, das bezogen auf die Einwohner am meisten Gotteskrieger exportiert?
Prof. Krause: Die EU hat einiges getan, was zur Stabilisierung beigetragen hat. In erster Linie hat die Tatsache, dass Tunesien assoziiertes Mitglied der EU ist, die dortige Lage stabilisiert. In anderen Ländern sind unsere Einwirkungsmöglichkeiten begrenzt.
Frankreichs Präsident Hollande muss sich des erstarkenden "Front national" erwehren. Kann die Gratwanderung gelingen, gegen Islamisten vorzugehen, ohne die Franzosen nordafrikanischer Herkunft völlig auszugrenzen?
Prof. Krause: Ich hoffe, dass es ihm gelingt, eine weitergehende Polarisierung der Gesellschaft zu vermeiden. Fatal wären antimuslimische Kundgebungen, bei denen Muslime in die Ecke gedrängt werden, die nichts mit dem Terror zu tun haben. Vermutlich versucht Hollande, mit seiner derzeit starken Rhetorik, dem "Front national" den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Was ist die Lehre für Deutschland: Sich aus der aktiven Bekämpfung des Kalifats wie bisher weitgehend heraushalten, um kein Ziel zu bieten, oder sich mit dem Gedanken anfreunden, in einer großen Allianz den IS zu bekämpfen - möglicherweise sogar am Boden?
Prof. Krause: Wir werden nicht darum herumkommen, uns an einer verstärkten Bekämpfung des Islamischen Staates zu beteiligen. Aber wir dürfen auch nicht den Fehler machen, uns ausschließlich auf den IS zu fokussieren. Ohne die exzessive Gewaltausübung durch das Assad-Regime, das von Russland gestützt wird, und ohne den schiitischen Schulterschluss zwischen Bagdad und Teheran nach dem US-Abzug aus dem Irak wäre es nicht zur Herausbildung des sunnitisch-extremistischen IS gekommen. Es gilt, breitere Lehren zu ziehen und nicht auf vereinfachende Formeln hereinzufallen, wonach militärische Mittel nichts nutzen oder die Amerikaner an allem schuld wären.
Muss der Westen wieder Bereitschaft zeigen, auch gestaltend in dieser Region einzugreifen - also nicht nur Flüchtlinge willkommen zu heißen, sondern auch Schmutzarbeit zu machen, damit Menschen es nicht mehr nötig haben, zu fliehen?
Prof. Krause: Diese Bereitschaft ist derzeit nirgends gegeben, auch wegen der Ernüchterung über die Ergebnisse bisheriger Ansätze. Klar ist, man wird die Dinge nicht einfach so weiterlaufen lassen können. Denn das Gewaltpotenzial wird immer größer - es bedroht Israel, aber auch immer stärker uns. Der Nahe Osten wird uns noch in den nächsten zehn bis 15 Jahren beschäftigen. Und Paris könnte sich als der Anfang von etwas noch weitaus Schlimmerem entpuppen.
Das Interview führte
Joachim Zießler
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