Landeszeitung Lüneburg: "Feindbilder sind zu überwinden" - Interview mit Oberst a.D. Wolfgang Richter
Lüneburg (ots)
Die Funkstille zwischen NATO und Russland endet. Das westliche Bündnis nimmt den Dialog mit Moskau wieder auf, den es wegen der russischen Aggression gegen die Ukraine und die Annexion der Krim beendet hatte. Eine gute Nachricht für den sicherheitspolitischen Experten Oberst a.D. Wolfgang Richter von der Berliner Denkfabrik SWP. "Nur wer miteinander redet, kann Konfrontation überwinden."
Der NATO-Russland-Rat läutet nach fast zwei Jahren Eiszeit ein Tauwetter ein. Ist es richtig, wieder zum "business as usual" zurückzukehren, obwohl der Ukraine-Konflikt noch eine offene Wunde ist?
Oberst a.D. Wolfgang Richter: Was derzeit geschieht, ist keine Rückkehr zum "normalen Geschäft", sondern eine zum Dialog. Das passt in die NATO-Strategie, die östlichen Bündnispartner militärisch rückzuversichern, aber zugleich die Tür zum Dialog offenzuhalten. Das ist kein wirkliches Tauwetter, sondern die Umsetzung der Erkenntnis, dass Konflikte in und außerhalb Europas nicht gegen, sondern nur mit Russland gelöst werden können. Obwohl der NATO-Russland-Rat zunächst nur auf Botschafterebene tagen wird, sendet er das Signal, dass die NATO vor ihrem Warschauer Gipfel nicht nur auf eskalierenden militärischen Aufmarsch setzt, sondern auch auf Dialog. Das passt in das Motto des deutschen OSZE-Vorsitzes: "Dialog erneuern, Vertrauen wieder aufbauen und Sicherheit wieder herstellen."
Sind mit der Wiederaufnahme der Diplomatie die Einverleibung der Krim und Putins Sieg in der Ostukraine zementiert?
Richter: Ich sehe noch keinen Sieg Putins in der Ostukraine. Das Minsk-II-Abkommen nimmt auch den Kreml in die Pflicht. Er muss seinen Einfluss auf die Separatisten geltend machen. Doch auch Kiew muss liefern und den Widerstand gegen eine Verfassungsänderung überwinden, die erst den Sonderstatus der beiden betreffenden Gebiete ermöglichen würde. Andererseits ist erkennbar, dass Russland sein Projekt "Noworossija", also "Neurussland" aufgegeben hat. Das vorherrschende Interesse scheint nun zu sein, den Konflikt in der Ostukraine gesichtswahrend zu beenden. Wohl auch, um die Achtung als Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA zurückzugewinnen und auf Friedenslösungen Einfluss zu nehmen - wie in Syrien oder Berg-Karabach.
Hat Putin bei seinen großrussischen Ambitionen die Vehemenz der westlichen Reaktion unterschätzt?
Richter: Absolut. Die Einheit des Westens hat Russland überrascht. Ebenso hat er sich verrechnet, weil der erwartete Volksaufstand in der Ostukraine gegen die Maidan-Regierung ausblieb. Stattdessen wurde die nationale Identität der Ukraine erheblich gestärkt.
Ist eine neue Sicherheitsarchitektur nötig, da NATO-Truppen und russische Soldaten näher aufeinander zu gerückt sind?
Richter: Nein, denn wir verfügen ja bereits über eine, die den Westen und Russland einbindet. Was nötig ist, ist die Umsetzung bereits bestehender Verträge und die Wiederbelebung zwischenzeitlich vernachlässigter Instrumente - zum Beispiel die vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen der OSZE. Wenn einige NATO-Staaten jetzt einen militärischen Aufmarsch an den Ostgrenzen des Baltikums fordern, ist dies der falsche Weg. Sie wissen genau wie Russland, dass sie unter dem Schutz des Artikel 5 des NATO-Vertrages stehen. Wir brauchen deeskalierende Schritte. Häufige grenznahe Übungen oder Überflüge bergen die Gefahr von Zwischenfällen. Und die OSZE liefert Instrumente zur grenznahen Deeskalation.
In den letzten Jahren schien die OSZE aufs Abstellgleis geschoben zu sein. Erlebt sie jetzt ein unverhofftes Comeback?
Richter: Der Kalte Krieg konnte nur überwunden werden, weil sich beide Seiten mit der OSZE ein gemeinsames Dach für die Sicherheitskooperation gegeben haben. Sie war auch Teil der Rückversicherung, um Russlands Bedenken gegen die NATO-Erweiterung von 1999 zu zerstreuen. Doch statt gestärkt zu werden, wurde die OSZE marginalisiert. Gescheitert ist auch das nähere Heranführen Russlands an die NATO. Der NATO-Russland-Rat konnte Blockpositionen nicht überwinden und versagte in der Krise. In der Gründungsakte hatten sich beide Seiten zugesichert, auf die dauerhafte Stationierung zusätzlicher substantieller Kampftruppen zu verzichten. Auch das Anpassungsabkommen zum KSE-Vertrag wurde im Westen, anders als in Russland, nicht ratifiziert. Erst 2014 wurde die Rolle der OSZE im Krisenmanagement wieder wahrgenommen, als sie sich im Ukraine-Konflikt als die einzige Organisation erwies, die beide Seiten zusammenbinden konnte.
Bestätigt Moskaus im Alleingang begonnener und beendeter Einsatz in Syrien die Einschätzung, dass es ohne Russland nicht geht?
Richter: Ich denke ja. Der Einsatz veränderte die strategische Lage, weil er nicht nur den IS und die Al-Nusra-Front bekämpfte, sondern auch das Regime stabilisierte. Das nahm den Rebellen nach ihren militärischen Erfolgen im Sommer 2015 die Hoffnung auf einen militärischen Sieg. Andererseits hat Russland die Operation beendet, gerade als Assad begann, von der Rückeroberung Syriens zu träumen. Objektiv gesehen schuf Russland das Gleichgewicht, das die Friedensverhandlungen erst ermöglichte. Andere Felder, auf denen die Zusammenarbeit mit Russland funktioniert, sind der Kampf gegen den Terrorismus und das Eintreten für die Nichtverbreitung von Atomwaffen, wie z.B. das Atomabkommen mit dem Iran.
Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen stockt. Sind die EU-Sanktionen ein zahnloser Tiger?
Richter: Beides ist nur indirekt miteinander verknüpft, weil die Aufhebung der Sanktionen an die Erfüllung der Minsker Absprachen gekoppelt ist. Die Verhängung der Sanktionen war eher ein Akt der Selbstvergewisserung der Europäer, sie sind nicht darauf angelegt, Russland in die Knie zu zwingen. Die eigentlichen Probleme für die russische Wirtschaft sind der niedrige Ölpreis, die Kapitalflucht und der Modernisierungsstau. Der Ukrainekonflikt ist nur vordergründig auf den Disput über das EU-Assoziierungsabkommen zurückzuführen. Der tiefere Grund ist die Befürchtung des Kreml, dass die militärische Struktur der NATO bis zur Krim heranrücken könnte. Die EU-Politik mit derartiger Geopolitik zu verknüpfen, war eine Fehlinterpretation Russlands, aber auch einiger Politiker der EU. Auch der Maidan hat das Assoziierungsabkommen als prinzipielle Entscheidung zwischen dem Westen und Russland gedeutet. Die Erklärung der Bundeskanzlerin und der Präsidenten der Normandiegruppe vom Februar 2015 stellt jedoch fest, dass der russische Wunsch nach einer Eurasischen Union und das Assoziierungsabkommen kompatibel sein können.
Ist der Westen naiv gegenüber den Versuchen des Kreml, mit Pipelines, Sonderbeziehungen zum Balkan oder zu Griechenland, aber auch mit der Unterstützung rechtspopulistischer Bewegungen Zwietracht zu säen?
Richter: Ich glaube nicht, dass der Westen naiv ist. Der Westen ist kein monolithischer Block, sondern besteht aus Staaten, die unterschiedliche Interessen haben. So haben wir auch unterschiedliche Ansichten darüber, wie mit Russland umzugehen ist - kooperativ wie nach dem OSZE-Konzept oder konfrontativ, wie das die sog. "NATO-Frontstaaten" erwarten. Ich halte es für eine weitverbreitete Paranoia im Westen, hinter jedem Interessenunterschied eine Spaltungsstrategie Moskaus zu vermuten. Die inneren Krisen der Europäischen Union haben zunächst mit Russland überhaupt nichts zu tun. Aber natürlich nutzt Russland sie für seine Interessenpolitik. Das macht der Westen ebenso. Wer also Spaltungsstrategien des Westens gegenüber Russlands Verbündeten annimmt, wird auch dafür Belege finden, denkt man nur an die Aufhebung der Sanktionen gegenüber dem autoritär regierten Weißrussland.
Noch Mitte der 90er-Jahre war auch in Moskau zu hören, Russland gehöre zu Europa. Mittlerweile dominieren Töne wie von der russisch-orthodoxen Kirche, wonach Russland einen Sonderweg im Kontrast zu westlichen Pseudowerten bestreite. Wie kam es zu dieser Abkehr?
Richter: Tatsächlich offenbart sich in Russland eine Art Trotzhaltung im Konflikt mit dem Westen. Also sucht man die Selbstbestätigung, die eigene Identität in tradierten Werten, die als Gegenentwurf zum "degenerierten Westen" idealisiert werden. Die Ursachen liegen nicht nur in der Innenpolitik. In seinen ersten Jahren als Präsident zeigte sich Putin kooperativ, versuchte die Vereinbarungen von 1999 umzusetzen. Russland bemängelt jedoch, dass der Westen diese Vereinbarungen nicht einhielt und zunehmend ohne oder gegen Russland agierte. Es wandte sich ab, verfiel in alte Einkreisungsängste bis hin zur Paranoia und suchte nach alternativer Identität, weil die Annäherung dem Land nicht einmal den verlorenen Respekt wiederbrachte. Aus Sicht des Kreml hat der NATO-Gipfel von 2008 mit dem Angebot an Georgien und die Ukraine zum Bündnisbeitritt "rote Linien" überschritten: Die Basis der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim wäre unter NATO-Kontrolle geraten und das westliche Bündnis wäre an den weichen Unterleib im Kaukasus herangerückt. Georgien fühlte sich ermutigt, im Sommer 2008 die abtrünnige Republik Süd-Ossetien und russische Peacekeeper anzugreifen. Das bestätigte Russland in der Annahme, dass das Heranrücken der NATO nicht zu mehr Stabilität, sondern zu militärische Auseinandersetzungen führt. Die russische Wahrnehmung der Krisen-Ursachen unterscheidet sich also komplett von der des Westens. Aber wir werden nicht umhin können, uns über diese Unterschiede unterhalten zu müssen. Denn ohne Dialog droht Konfrontation. Es geht darum, die wieder aufgelebten Feindbilder zu überwinden. Den unvermeidlichen Disput darüber werden wir und die Russen aushalten, da sie ja ihrerseits dem Westen den Bruch des Völkerrechts vorwerfen.
Bei dem Stichwort: War 1999 ein Trauma, als die NATO Russlands traditionellen Verbündeten Serbien bombardierte?
Richter: Das ist sicherlich der Fall, zumal der Eingriff nicht vom UN-Sicherheitsrat gebilligt worden war. Moskau wirft dem Westen Völkerrechtsbruch vor. Ein Punkt, den der damalige Kanzler Gerhard Schröder durchaus eingeräumt hatte, der aber ins Feld führte, dass dieser Einsatz durch die humanitäre Notlage im Kosovo und die Schutzverantwortung gerechtfertigt gewesen sei. Der Westen hatte damals aber auch Moskau den Bruch des Völkerrechts in Tschetschenien vorgeworfen. Trotz der gegenseitigen Vorwürfe gelang jedoch 1999 in Istanbul ein Kompromiss, der die NATO-Erweiterung einbetten sollte. Er wurde allerdings nicht umgesetzt. Mit der zweiten NATO-Erweiterung von 2004 rückte das Bündnis mit drei Staaten direkt an die russischen Grenzen heran, die keinen Rüstungskontrollbegrenzungen und damit keinen rechtsverbindlichen Aufmarschbeschränkungen unterliegen.
Welche Stellschrauben sollte Deutschland nun im OSZE-Vorsitz drehen?
Richter: Die Bewältigung der Ukrainekrise wird ein Schwerpunkt bleiben. Ohne eine Umsetzung des Minsker Abkommens wird es anderswo keine substantielle Annäherung geben. Der deutsche Vorsitz wird die Instrumente des Krisenmanagements stärken, insbesondere die Effektivität der Sonderbeobachtungsmission in der Ukraine. Zugleich muss er einen umfassenden Dialog fördern und die Idee der regelkonformen Sicherheitskooperation wiederbeleben, damit eine dauerhafte Konfrontation in Europa verhindert wird und Vertrauen wieder wachsen kann. Aus der Sicht Moskaus reicht die NATO-Forderung nach mehr militärischer Transparenz jedoch nicht aus. Es will rechtsverbindliche Stationierungsbegrenzungen. Allerdings gibt es derzeit in der NATO keinen Konsens über eine neue Rüstungskontrollinitiative. Keine Zugeständnisse kann es bei den Menschenrechten und bei der Demokratieentwicklung geben. Diese Grundsätze müssen auch gegen Angriffe autoritär geführter Staaten verteidigt werden.
Das Interview führte
Joachim Zießler
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