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Landeszeitung Lüneburg: "Reserve zur Nationalgarde umbauen" - Interview mit dem Verteidigungsexperten Roderich Kiesewetter

Lüneburg (ots)

Terrorbedrohungslagen häufen sich auch in Deutschland. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen forderte den Einsatz der Bundeswehr im Innern auch bei terroristischen Großlagen. SPD-Generalsekretärin Katarina Barley warnte vor einer "Militarisierung der öffentlichen Sicherheit". CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter sieht eine "allzu zugespitzte Debatte". Seine Idee: "Reservisten der Bundeswehr können als eine Art Nationalgarde der Polizei helfen.

Beim Amoklauf in München waren 100 Feldjäger und Sanitäter in Bereitschaft versetzt worden. Gebraucht wurden sie nicht. Sind Sie dennoch froh, dass das Tabu bröckelt und dass über Bundeswehreinsätze im Innern leidenschaftlich debattiert wird?

Roderich Kiesewetter: Das ist zum Glück kein Tabu mehr, weil wir längst gelernt haben, dass die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit zerfließen. Ein Staat, der handlungsfähig sein will, muss die gesamte Klaviatur der Sicherheitspolitik spielen können, die schwarzen und die weißen Tasten. Mir kommt es darauf an, dass die Bundeswehr, dort, wo die Polizei keine Fähigkeiten hat, unterstützungsbereit ist. Aber der Einsatz der Bundeswehr im Innern ist kein Selbstzweck. Viel wichtiger ist, dass die Polizei gut ausgestattet ist und das bekommt, was sie braucht.

Welche Aufgaben könnte die Bundeswehr im Falle eines Terroranschlags übernehmen?

Kiesewetter: Zum Beispiel beim ABC-Abwehrschutz, also im Falle atomarer, biologischer oder chemischer Bedrohungen. Hier hat zwar auch das Technische Hilfswerk (THW) Kompetenz. Die Fähigkeiten der Bundeswehr sind in diesem Bereich allerdings besonders ausgeprägt, deshalb kann sie sehr gut unterstützen. Zweitens verfügt die Bundeswehr über gute Nachtsichtfähigkeiten. Ein Einsatz bei der Grenzüberwachung wäre also durchaus vorstellbar. Zudem könnten Feldjäger die Polizei bei der Verkehrsregelung unterstützen. Küstenschutz und Luftabwehr gehören zwar auch zur Kernkompetenz der Bundeswehr, sind aber als heikle Bereiche derzeit vom Bundesverfassungsgericht ausgeschlossen worden.

Bei der Sturmflut in Hamburg schwang sich einst Helmut Schmidt kraft natürlicher Autorität zum Kommandeur auch über Bundeswehrkräfte auf. Wer dürfte eigentlich die Bundeswehr anfordern?

Kiesewetter: Die Landratsämter, wenn sie den Katastrophenfall feststellen. Die Landesinnenminister und bei übergreifenden Szenarien auch der Bundesinnenminister. Bei entsprechenden Gefährdungslagen sollte aus meiner Sicht die Polizei die Führung behalten und die Bundeswehr ihr unterstellt werden. Selbstständiges Agieren der Bundeswehr im Innern wäre nicht zweckdienlich.

Müsste der Begriff terroristische Großlage nicht klarer definiert werden?

Kiesewetter: Ich halte sehr viel davon, den Artikel 35 Absatz 2 des Grundgesetzes (Nothilfe der Bundeswehr bei einer Naturkatastrophe oder einem "besonders schweren Unglücksfall"; Anm. d. Red.) zu überprüfen. Ebenso könnte der Artikel 91a überprüft werden, der die Hilfe des Bundes bei Aufgaben der Länder regelt, wenn diese für die Gesamtheit bedeutsam sind. Allerdings bin ich kein Verfassungsrechtler. Entscheidend für mich ist, dass die Bundeswehr entscheidend die Durchhaltefähigkeit bei größeren Notfall-Lagen steigern kann. Hier besteht ein Handlungsbedarf, der noch nicht thematisiert worden ist: Die Bundeswehr-Reservisten können nicht verbindlich einberufen werden. Die Bundeswehr verfügt über etwa 32000 beorderte Reservisten, die in der Truppenreserve regelmäßig Wehrübungen abhalten, und etwa 8000 Mann in der Territorialreserve. Letztere ist die, die in einem Notfall nach Art. 35 des Grundgesetzes eingreifen kann. Aber: Jeder Reservedienst ist in Deutschland seit der Aussetzung der Wehrpflicht freiwillig. Sinnvoll aber wäre es, die Reserve zur Gesellschaftsunterstützung einzusetzen, und deshalb den Einsatz ab der dritten oder vierten Woche einer Hochwasser- oder anderen Notlage verbindlich zu machen. Analog zu den Gesetzen zur Freiwilligen Feuerwehr in den Ländern oder dem THW-Gesetz auf Bundesebene. Dann würden die Reservisten einen Verdienstausfall gezahlt bekommen, Arbeitgeber bekämen Kosten ersetzt.

Seit dem Karlsruher Urteil von 2012 kann die Bundeswehr schon jetzt Katastrophenhilfe leisten. Weshalb muss aus Ihrer Sicht nachgebessert werden?

Kiesewetter: Ich denke, die bestehenden Gesetze sind noch nicht ausgeschöpft, können durchaus noch ausgelegt werden. Ich halte die derzeitige Diskussion zum Teil für unnötig zugespitzt. Zwar könnte der Artikel 35 etwas klarer gefasst werden, insbesondere in dem Punkt, ab wann der Einsatz von Streitkräften zu regeln ist. So hat sich die Hardthöhe auch wegen der fehlenden rechtlichen Regelung sehr zurückhaltend bei der Unterstützung von Flüchtlingen verhalten. Man könnte die Flüchtlingsunterstützung mit in Artikel 35 aufnehmen, obwohl weder Notfall noch Katastrophe vorliegt. Oder man integriert sie in Artikel 91, der die Gemeinschaftsaufgaben regelt. Dann könnten Bundespolizei und Bundeswehr nicht ausschließlich unterstützend eingesetzt werden. Weitergehende Forderungen polarisieren lediglich. Am wichtigsten ist, dass die Polizei alle Mittel bekommt, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben braucht. Bei allem, was darüber hinaus weist, wie der Schutz der Küsten und des Luftraums sowie die Abwehr von Gefahren mit Kampfstoffen und die Sicherung der Grenzen, kann die Bundeswehr unterstützend eingreifen. Wenn der Begriff der Amtshilfe etwas genauer und etwas weiter gefasst würde, würde zugleich spekulativen Diskussionen der Boden entzogen.

Sollen Bundeswehruniformen auf den Straßen in Zeiten der Angst für gefühlte Sicherheit sorgen?

Kiesewetter: Das kann ich mir nur in Ausnahmefällen vorstellen. Wir haben in Deutschland eine sehr starke Polizei, die doppelt so viel Polizisten aufbringen kann als die Bundeswehr Soldaten hat. Die Erhöhung der Polizeipräsenz auf den Straßen würde den Bürgern mehr Sicherheit vermitteln. Bundeswehruniformen kann ich mir eher bei gemeinsamen Notfallübungen mit der Polizei vorstellen.

Die verheerenden Weimarer Erfahrungen ließen die Verfassungsväter den Spielraum der Bundeswehr beschneiden. Ist diese Verfassung für die stabile Demokratie Bundesrepublik nicht mehr zeitgemäß?

Kiesewetter: In der Tat. In Jahrzehnten, die von Staatsbürgern in Uniform und innerer Führung geprägt waren, hat die Bundeswehr gezeigt, dass sie ein verlässlicher Bestandteil unserer zivilen Gesellschaft ist. Überlegungen zum Grundgesetz, die auf der Weimarer Republik und den Nationalsozialismus fußen, sind mittlerweile selbst Geschichte. Erstmals in der deutschen Geschichte sind die Streitkräfte über sechs Jahrzehnte parlamentarisch kontrolliert. In der Verfassungstreue steht die Truppe hinter keiner anderen Institution zurück. Deshalb sind Vorbehalte gegen den Einsatz der Bundeswehr im Innern einfach nur anachronistisch.

Könnte eine stärkere Einbindung der Bundeswehr im Innern dem Trend einer Abkoppelung von der Gesellschaft entgegenwirken, den manche mit dem Ende der Wehrpflicht beklagen?

Kiesewetter: Dieser Gefahr wirkt bereits die Integration der Soldaten über die Reserve entgegen. Deshalb würde ich eher an dieser Stellschraube drehen. Gelingt es uns, Verlässlichkeit bei der Ableistung von Reserveübungen zur Gesellschaftsunterstützung zu erlangen, stärkt dies die Einbindung der Bundeswehr. Notwendig dazu ist, verstärkt Art.-35-Lagen gemeinsam mit der Polizei zu üben. Dass gemeinsame Lagezentren betrieben werden, dass geübt wird, große Menschenmassen um Kernkraftwerke oder Zwischenlager zu evakuieren. Derartige Übungen würden das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung eher erhöhen, als die Bundeswehr in diesem Punkt auszuklammern.

Im Weißbuch zur Sicherheitspolitik hat die große Koalition verstärktes Üben von Polizei und Bundeswehr auch ohne Grundgesetzänderung angekündigt. Wieso führt dieser Punkt jetzt zum Dissens?

Kiesewetter: Ich kann nicht erkennen, warum die SPD und Teile der Grünen dies nun so kritisch sehen. Es ist die Aufgabe der Politik, die Verängstigung der Bevölkerung zu überwinden und ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Und dazu gehört auch, dass das gesamte Spektrum der Sicherheitsinstrumente in Deutschland genutzt wird. Und nutzen kann ich es nur, wenn festgelegt ist, was erlaubt ist, wenn die Fertigkeiten in gemeinsamen Übungen verbessert werden. Von daher sind die Sozialdemokraten gut beraten, das Problem noch vor Einsetzen des Wahlkampfes noch in diesem Jahr zu lösen. Es wäre ein ganz starkes Signal der großen Koalition, wenn sie die strittigen Punkte bei der Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane lösen könnte.

Hat die Bundeswehr nicht schon genug Probleme, ihre ureigenen Aufgaben zu erfüllen?

Kiesewetter: So ist es. Deshalb sind wir gehalten, die Bundeswehr nicht zu überfordern. Das könnte gelingen über einen verbindlichen Dienst der Territorialreserve, also den regionalen Sicherungs- und Unterstützungskompanien und Kreisverbindungskommandos. Würde man diese Truppe aus der allgemeinen Reserve von 800000 Mann auf 20 bis 30000 Mann aufstocken, so dass sie schichtfähig würde, wäre die Bundeswehr nachhaltiger imstande, Unterstützungsleistungen zu erbringen. Die Berufs- und Zeitsoldaten wären dann in Auslandseinsätzen gebunden, die Reservisten könnte man dann als eine Art Nationalgarde für die innere Sicherheit zur Entlastung und unter Führung der Polizei einsetzen. Dazu wären einige Haushaltsmittel mehr erforderlich, aber es würde die jetzt aktive Bundeswehr nicht weiter belasten, die gerade gehalten ist, die europäische Arbeitszeitrichtlinie umzusetzen.

Das Interview führte

Joachim Zießler

Pressekontakt:

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Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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