Landeszeitung Lüneburg: Europa muss sich um seine Probleme selbst kümmern - Ursula von der Leyen: Bundeswehr muss sowohl die Heimat verteidigen als auch im Ausland stabilisieren können
Lüneburg (ots)
Eigentlich war der "Tiger" gar nicht für den Einsatz in Westafrika vorgesehen, weil Hitze und Sand dem Hubschrauber zusetzen. Erst eine Ausnahmegenehmigung ermöglichte den Einsatz in Mali. War Ihr Versprechen des "bestmöglichen Geräts" für die Truppe zu vollmundig?
Dr. Ursula von der Leyen: Der Tod der beiden Piloten ist mir sehr nahe gegangen. Ich war in Gao vor Ort und habe dort auch mit den Kameradinnen und Kameraden der beiden Soldaten gesprochen. Sie wollen, dass die Ursache des Absturzes aufgeklärt wird, haben aber keinen grundsätzlichen Zweifel an diesem Hubschrauber. Der Tiger ist einer der modernsten Kampfhubschrauber überhaupt und wurde bereits in einer eigens auf die klimatischen Verhältnisse zugeschnittenen Variante erfolgreich in Afghanistan eingesetzt. Dieselbe Variante benutzen wir auch in Mali. Frankreich setzt den Tiger seit vielen Jahren in Afrika ein. Das Untersuchungsteam untersucht derzeit, welche Probleme es mit dem Rotor gegeben haben könnte, aber wir wissen schlicht noch nicht, woran genau es gelegen hat. Die Temperaturen am Tag des Absturzes waren moderat, insofern spielt die Ausnahmeregelung keine Rolle. Grundsätzlich ist es mir aber wichtig, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten, die das Parlament in Einsätze schickt, das bestmögliche Material mitgeben. Deswegen setze ich mich so für die Trendwenden bei den Finanzen und dem Material ein.
Seit Jahresbeginn wurden 5000 Zivilisten in Afghanistan getötet, darunter 1500 Kinder. Was muss in Mali anders gemacht werden, damit der Staat erfolgreicher stabilisiert wird als Afghanistan?
Von der Leyen: Bei diesen komplexen Konflikten gibt es keinen kurzfristigen Erfolg. Im Kosovo hat der Einsatz Stabilität gebracht, und wir können nun langsam nach fast 20 Jahren, aber stetig die Präsenz reduzieren, so dass ein Ende irgendwann absehbar ist. Es ist richtig, dass dies in Afghanistan und Mali noch nicht der Fall ist. Aber Mali zeigt auch, dass wir dazugelernt haben. Die Tatsache, dass die Vereinten Nationen den Friedensvertrag begleiten, die Europäer in Mali die Truppe zugleich ausbilden und die G5-Sahel-Staaten parallel ihre eigene Truppe aufbauen, um auf Dauer den Terror in den eigenen Ländern selbst zu bekämpfen, zeigt die Lernfortschritte. Auch die vernetzte Herangehensweise mit Versöhnungsarbeit und wirtschaftlicher Unterstützung ist wertvoll, damit die Menschen eine Perspektive sehen zu bleiben. In einigen Jahren können wir hoffentlich sagen: Hier haben wir es von Anfang an besser gemacht. Vielleicht nicht alles richtig, aber besser.
Fehlende Strategie und Korruption schwächen die afghanische Armee. Welche Fehler wurden gemacht bei dem Versuch, die Streitkräfte zum Rückgrat des Staates aufzubauen?
Von der Leyen: Die afghanischen Sicherheitskräfte schlagen sich im Großen und Ganzen wacker gegen die Taliban und den IS, der versucht auch dort Fuß zu fassen. Militärisch geht die Ausbildung gut voran. Man muss aber Geduld haben, zumal das Ende des Kampfeinsatzes ISAF für die afghanische Armee sehr früh kam. Wir sehen augenblicklich eine Pattsituation. Den Taliban gelingen immer wieder kurzfristige militärische Erfolge. Meistens können sie aber die Gebiete nicht halten und müssen wieder der Armee weichen. Das hat aber zur Folge, dass die Bevölkerung nicht zur Ruhe kommt und die wirtschaftliche Entwicklung stagniert. Eine dauerhafte Befriedung des Landes muss aus der afghanischen Gesellschaft selbst kommen. Mit dem Fortgang des politischen Versöhnungsprozesses im Land können wir nicht zufrieden sein und das ist auch immer wieder Thema in den Gesprächen mit der afghanischen Regierung. Für das afghanische Volk ist die Unterstützung der Weltgemeinschaft unendlich wichtig. Mädchen gehen zur Schule und Universität. Die Menschen können zur Wahl gehen, es werden Geschäfte gegründet. In Afghanistan wächst eine neue Generation heran, die wir nicht im Stich lassen dürfen. Wieso engagieren wir uns so stark in Mali und nicht mehr in Libyen, das uns geographisch und als Schleuser-Nest näher ist?
Von der Leyen: Das Völkerrecht verlangt eine Einladung des jeweiligen Landes oder ein Mandat der Vereinten Nationen, das ein Eingreifen von außen erlaubt. Beides gibt es für Libyen nicht. Deutschland engagiert sich jedoch von Anfang an in der EU-Operation Sophia, die im Mittelmeer gegen Schlepper, Schleuser und Waffenschmuggel vorgeht. Im Moment ist das Sophia-Mandat auf internationale Gewässer beschränkt, wo wir auch libysche Küstenwache ausbilden. Auch, weil die libysche Regierung bislang keine ausländischen Truppen auf dem eigenen Territorium dulden möchte. Anders als in Mali gibt es für Libyen auch keine im ganzen Land anerkannte und durchsetzungsfähige Regierung. Milizen spielen ihr eigenes Spiel und verdienen am miesen Schleusergeschäft mit. Weil die Situation in Libyen so schwierig ist, unterstützen Deutschland und Frankreich eine Initiative der südlich angrenzenden G5-Sahel-Staaten, die sich auf die Fahnen geschrieben haben, gemeinsam gegen Terror, Menschenschmuggel und grenzüberschreitende Kriminalität vorgehen zu wollen. Das bringt auch Stabilität für Millionen Afrikaner, die gerne in ihrer Heimat bleiben möchten.
Vor vier Jahren starteten Sie eine Reform des Beschaffungswesens. Was gelang, wo muss nachgearbeitet werden?
Von der Leyen: Die Reform des Rüstungswesens trägt erste Früchte. Wir haben mit den regelmäßigen Rüstungsberichten an das Parlament viel Transparenz in die Beschaffung reingebracht und ein modernes Risikomanagement für Großprojekte eingeführt. Damit können wir Fehlentwicklungen viel früher korrigieren, als das früher der Fall war. Das hat Vertrauen geschaffen, dass wir das Geld des Steuerzahlers sinnvoll investieren, wie zum Beispiel in die Digitalisierung der gesamten Bundeswehr oder den wichtigen Zukunftsbereich Cyberabwehr. Insgesamt haben wir in dieser Legislatur Beschaffungsaufträge für mehr als 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, das ist rund fünfmal so viel wie im Zeitraum davor. Das heißt nicht, dass die moderne Ausrüstung bereits am nächsten Tag in der Kaserne ankommt. Das kann gerade bei Großgerät Jahre dauern. Aber der in dieser Legislatur geleistete Kraftakt wird in der Truppe hoch anerkannt. Diesen Weg müssen wir jetzt konsequent weitergehen.
Kaum hat sich die Bundeswehr zur Einsatzarmee gehäutet, sorgt Putins Expansionsstrategie für eine Renaissance der Idee, dass die Armee vorwiegend zur Territorialverteidigung da sein sollte. Steht ein erneuter strategischer Schwenk bevor?
Von der Leyen: Die Bundeswehr muss sich an der Realität orientieren. Weil die heute anders aussieht als vor zehn Jahren, hatte ich den Weißbuch-Prozess angestoßen, der die Sicherheitslage neu analysiert und fortschreibt. Danach müssen wir in Zukunft mehrgleisig fahren. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim sagt uns, dass die Bundeswehr Bündnisverteidigung können muss, damit Grenzen in Europa respektiert werden. Der brutale Feldzug des IS und die Flüchtlingskrise haben gezeigt, dass die Bundeswehr auch gemeinsam mit Partnern, etwa unter dem Dach der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union für Friedens- und Stabilisierungsmissionen zur Verfügung stehen muss. Europa muss in der Lage sein, sich um seine Probleme selbst zu kümmern. In einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit ist die Bundeswehr als Streitkraft des wirtschaftlich stärksten und politisch einflussreichsten Landes natürlich ein wichtiger Faktor. Und drittens muss die Bundeswehr modern aufgestellt sein, um neuen Gefahren wie hybrider Kriegsführung oder Cyberangriffen entgegnen zu können. Daran arbeite ich mit aller Kraft.
Sie betonen, dass Deutschland sein mehrfach gegebenes Versprechen, zwei Prozent des BIP für die Rüstung auszugeben, nun auch halten müsse. Wäre es nicht wichtiger, die 200 Milliarden Euro, die Europa schon für Rüstung aufwendet, effizienter einzusetzen - etwa über eine Vereinheitlichung der Waffensysteme und das Vermeiden gedoppelter Fähigkeiten?
Von der Leyen: Es ist in der Tat entscheidend, den Fokus auf die Europäische Verteidigungsunion zu legen. Bloß haben dort auch alle anderen Länder Defizite und Materiallücken. Und da wir umgeben sind von einem Bogen der Instabilität, der von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis hin zu unseren Nachbarn in Osteuropa reicht, wissen wir, dass wir am Anfang mehr investieren müssen. Wir müssen unsere Soldaten gut ausrüsten, aber auf die lange Strecke gesehen wird es viel sinnvoller sein, europäische Streitkräfte mit gemeinsamen Standards und einheitlicher Ausrüstung aufzustellen, statt jeden einzelnen europäischen Staat weiter vor sich hin wursteln zu lassen. Die Effizienzgewinne - etwa bei Entwicklung, gemeinsamem Betrieb und Wartung, von denen Sie sprechen, ergeben sich aber erst, wenn wir alle erst einmal in neues einheitlicheres Material investieren. Das braucht Zeit.
Würden wir das Zwei-Prozent-Versprechen einhalten, würde sich der Wehretat fast verdoppeln. Besteht dann nicht die Gefahr, dass die Verbündeten ein derart machtvolles Deutschland argwöhnisch betrachten?
Von der Leyen: Ich kenne kein einziges Land in der EU und der NATO, das nicht die feste Erwartung hat, dass auch Deutschland seinen Anteil an der gemeinsamen Verteidigung trägt. Viele europäische Länder strampeln sich richtig ab, um ihren Teil zu erfüllen, und erwarten deshalb zu recht, dass wir uns nicht wegducken. Mir ist wichtig, dass wir die Bundeswehr so ausstatten, dass sie in dem Bereich, den wir vernetzte Sicherheit nennen - also die gemeinsame Arbeit mit Diplomaten und Entwicklungshelfern - gut fortführen können. Die Soldaten brauchen modernes und sicheres Material, nur so können sie ihre Schutzfunktion in diesem Rahmen ausfüllen.
Das Interview führte
Joachim Zießler
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