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Landeszeitung Lüneburg: "Die SPD hat geliefert" - Interview mit Andrea Nahles und Stephan Weil

Lüneburg (ots)

Frau Ministerin, ihre Projekte haben Sie in der Koalition alle durchgesetzt - von der Rente mit 63 bis zum Mindestlohn. Warum kommt die SPD dennoch nicht aus dem 20-Prozent-Ghetto?

Andrea Nahles: Wir müssen in den verbleibenden Wahlkampf-Wochen noch eine Schippe drauflegen, das ist klar. Ich bin aber zuversichtlich, dass es uns in der Zuspitzung gelingt, deutlich zu machen, dass wir in der großen Koalition der Motor gewesen sind - und zwar alle SPD-Minister. Von der Frauenquote über den Mindestlohn, die Rente ab 63 bis zur Mietpreisbremse: Die SPD hat geliefert. Andererseits werden die Wähler nicht über eine Bilanz abstimmen, sondern über den richtigen Weg in die Zukunft. Deutschland braucht mehr und kann auch mehr. Der Mindestlohn ist die unterste gesetzliche Grenze, aber noch kein guter Lohn. Ich schlage deshalb einen Pakt für anständige Löhne vor - gerade für den sozialen oder den Dienstleistungsbereich - und auch Paketboten und Altenpfleger müssen von ihrem Lohn leben können.

Die Wirtschaft boomt - sowohl im Bund als auch in Niedersachsen - dennoch verharrt die Armutsgefährdungsquote, bzw. steigt sogar noch. Haben Sie beide in der Regierung bei der Armutsbekämpfung versagt?

Nahles: Die Armutsrisikoquote ist seit 2005 stabil. Aber sie beschreibt nur das Verhältnis der Vermögensverteilung. Das ist nicht die entscheidende Kategorie. Wirklich beunruhigend ist, dass die unteren 40 Prozent der Einkommensgruppen seit 1995 keine Reallohnsteigerung mehr hatten. Sie sind regelrecht vom Wohlstandszuwachs abgekoppelt. Es gibt eine Kluft bei den Löhnen, die vom Mindestlohn nur ein bisschen verkleinert werden konnte. Ein Missstand mit Ansage, da die Tarifbindung der Firmen im Westen nur noch bei 50 Prozent liegt, im Osten sogar bei nur 37 Prozent. Anfang der 80er-Jahre lag sie noch bei 91 Prozent. Um wieder zu gerechteren Löhnen zu kommen, bedarf es starker Gewerkschaften - und eine starke SPD, denn eine Verbesserung der Mitbestimmung gibt es mit der CDU/CSU nicht.

Stephan Weil: In Sachen Armutsbekämpfung ist Andrea Nahles die erfolgreichste Ministerin seit vielen Jahren. So haben Millionen Bürger durch den Mindestlohn mehr Geld in die Tasche bekommen. Diese Menschen sind dadurch zwar alles andere als wohlhabend, aber immerhin sind viele keine Aufstocker mehr, die von öffentlicher Förderung abhängen. Was das Land angeht, wissen wir, dass Armutsbekämpfung buchstäblich am Anfang starten muss - je besser Kinder gefördert werden, je besser Jugendliche ausgebildet werden, desto geringer ist die Gefahr, dass sie später einmal arm werden. Deshalb bin ich im Rückblick auf die letzten viereinhalb Jahre stolz, dass wir bei der frühkindlichen Förderung in Niedersachsen auf einem deutlich höheren Niveau liegen. Das wird dazu beitragen, dass das Armutsrisiko auf Sicht in Niedersachsen deutlich reduziert ist.

Fachkräfte werden zur bedrohten Art. Algorithmen werden Versicherer und Banker überflüssig machen. Frau Nahles, reicht das "Chancenkonto" im Bund als Antwort auf die neue Arbeitswelt? Und Herr Weil: Welche Stellschrauben hat das Land, wenn Robot-Lkws Tausende Fernfahrer brotlos machen?

Nahles: Die Grundlagen in Deutschland stimmen, die müssen wir nicht neu erfinden. Ich denke da etwa an die Duale Ausbildung. Aber danach gilt es, am Ball zu bleiben. Gerade bei der Qualifizierung müssen wir deutlich besser werden. Deshalb ist das "Chancenkonto" ein Fortschritt. Jeder bekommt Möglichkeiten, sich in der sich rasant wandelnden Arbeitswelt weiter zu qualifizieren - unabhängig vom Geldbeutel. Alle sollen ein Guthaben bekommen, das sie investieren können - in sich selbst. Wir wollen damit eine andere Weiterbildungskultur in Deutschland anregen. Derzeit ist es leider nicht so, dass jeder Arbeitgeber jubelt, wenn Sie den Wunsch nach Weiterbildung äußern.

Brauchen Sie in dem Punkt mehr Unterstützung von der Wirtschaft?

Nahles: Eindeutig ja. Nach einer Umfrage meines Ministeriums glauben ein Drittel der Firmen, sie wären von der Digitalisierung nicht betroffen. Das ist ein gefährlicher Irrtum. Es gibt kein einziges Unternehmen, das nicht betroffen sein wird. Aber nur ein Drittel - zumeist die großen Spieler - haben bereits Konzepte.

Jüngste Studien sagen das Verschwinden von zig Branchen voraus.... Nahles: Das sind unrealistische Horrorszenarien, die ein Ende der Arbeit heraufbeschwören - sie lenken nur von der Aufgabe der Veränderung der Arbeit ab.

Weil: Anfang des Jahres zeigte uns der IG-Metall-Chef Jörg Hoffmann während einer Kabinettsklausur auf, dass in den vergangenen 30 Jahren die Hälfte aller Industriearbeitsplätze verschwunden ist oder sich so gewandelt hat, dass sie nicht wiederzuerkennen sind. Das sei aber nicht das Problem, weil in der Zwischenzeit viele neue Arbeitsplätze entstanden sind. Das Problem ist eher, dass wir nicht wieder 30 Jahre Zeit haben, um uns auf den Wandel einzustellen. Wir müssen schneller und konsequenter sein. Stellen wir uns geschickt an, wird Deutschland die Digitalisierung als Chance nutzen können. Anderenfalls wird sie zu einem beträchtlichen Risiko. Auch in Zukunft brauchen wir qualifizierte Fachkräfte, deshalb müssen wir ganz konkret in Niedersachsen dafür sorgen, dass etwa die Berufsschulen besser ausgestattet sind und die Universitäten zusätzliche Studiengänge im IT-Bereich anbieten. Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt auch in der Industrie drastisch verändern. Hinzu kommt die E-Mobilität, die in der Autobranche Zehntausende Arbeitsplätze kosten wird, während andere neu entstehen werden.

Welche Strategie hat die SPD, um diesen Wandel abzufedern?

Weil: Ich würde bezüglich dieser Prognosen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Richtig ist, dass die Autoindustrie vor zwei großen Herausforderungen steht: dem langfristigen Abschied vom Verbrennungsmotor und der Tatsache, dass das Auto immer stärker Teil des Internets wird und damit auch neue Wettbewerber auftauchen. Die notwendigen Schlussfolgerungen hat VW schon gezogen. Der Konzern konzentriert sich mit großer Konsequenz auf alternative Antriebe und auf neue Dienstleistungen, die rund um die E-Mobilität entstehen werden. In diesen Bereichen will VW führend sein. Bei allen Schwierigkeiten, die VW bekanntlich hat, sehe ich aber auch die außerordentlich hohe Kompetenz in diesem Unternehmen. Die Diesel-Krise hat insofern einen positiven Effekt gehabt. VW verfolgt eine völlig andere Strategie als vor zwei Jahren. Und das war auch dringend nötig.

Würden Sie einem gesetzlich verordneten Aus des Verbrennungsmotors 2040, 2030 oder gar 2025 - wie es Greenpeace fordert - zustimmen?

Weil: Nein, das würde ich nicht. Ich sehe vielmehr Industrie und Staat in der Pflicht, gute Bedingungen für alternative Antriebe vorzuhalten, so dass die Autofahrer freiwillig und aus guten Gründen aussteigen.

Von dieser Art Gleitrente für den Verbrennungsmotor zurück zur Rente: Sie wollen keinen Koalitionsvertrag unterzeichnen, in dem ein Rentenniveau von unter 48 Prozent steht. Wie soll das dafür nötige Geld in die Rentenkasse gelangen?

Nahles: Das Rentenniveau ist derzeit nicht gesichert. Wenn wir nichts tun, wie Frau Merkel es möchte - kann es auf 43 Prozent im Jahr 2030 abrutschen. Deshalb müssen wir dringend gesetzlich gegensteuern. Wir wollen das Rentenniveau auf heutigem Stand von 48 Prozent stabilisieren. Ein Gegensteuern ab 2027 rund 19 Milliarden Euro pro Jahr mehr. Wenn man aber weiß, dass wir schon heute 277 Milliarden Euro pro Jahr für die Gesetzliche Rente ausgeben, relativiert sich diese Summe. Die Frage ist doch: Was ist uns eine gute Rente wert? Unser Konzept sorgt dafür, dass die Generation, die die höchsten Beiträge zahlen muss, hinterher auch selbst eine gute Rente bekommt. Das muss aus meiner Sicht ein Mix aus Beiträgen und Erhöhungen des Steuerzuschusses sein. Wenn wir die Absenkung des Rentenniveaus stoppen, bringt das durchschnittlich 150 Euro pro Monat mehr an gesetzlicher Rente. Schon im nächsten Jahrzehnt gehen die Babyboomer in Rente, also die geburtenstarken Jahrgänge 1954 bis 1969. Wir müssen den Bürgern also reinen Wein einschenken, und nicht - wie die Union - Nebelkerzen werfen und sagen, bis 2030 sei kein Gegensteuern nötig.

Gehört zum reinen Wein einschenken denn nicht auch, dass Rot-Grün im Rahmen der Agenda 2010 in den Jahren 2003 bis 2005 erst die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen hatte, um das Rentenniveau bis 2030 auf bis zu 43 Prozent abzusenken?

Nahles: Das waren ganz andere Zeiten: wir hatten damals 5,3 Millionen Arbeitslose. Die Prognosen waren sehr schlecht. Wir haben viele Arbeitnehmer mit 55 Jahren mit staatlichen Mitteln in den Ruhestand geschickt, die Frauenerwerbstätigkeit lag bei nur 60 Prozent und die Zuwanderung wurde mit 100 000 Menschen pro Jahr angenommen. Heute - nach 15 Jahren - hat sich die Lage völlig verändert: Der Arbeitsmarkt boomt. Die Frauenerwerbstätigkeit liegt bei 74 Prozent, die Zahl der Zuwanderer hat sich verdreifacht. Deshalb können wir heute ganz anders planen. Wir können die gesetzliche Rente zukunftsfest machen und das Vertrauen der jungen Leute in die Rente wiedergewinnen.

Die Gesetzliche Rentenversicherung muss auch versicherungsfremde Leistungen wie die "Mütterrente" schultern. Wäre es dauerhaft nicht gerechter, irgendwann komplett auf ein steuerfinanziertes Rentensystem umzustellen?

Nahles: Schon heute sind 86 der 277 Milliarden Euro der Rentenkassen-Ausgaben Steuergeld. Wir haben also bereits eine Mischfinanzierung. Aber, da gebe ich Ihnen recht, wir müssen den Steueranteil erhöhen. Ich habe eine doppelte Haltelinie gefordert: das Rentenniveau von heute und eine Deckelung der Beiträge. Das bedeutet, dass automatisch der Steueranteil der Rente steigen wird. Das nennen wir Demografie-Zuschuss.

Viele Bürger, aber auch Ökonomen mahnen immer wieder ein gerechteres Steuersystem an. Rot-Grün hat mit der Steuerreform im Jahr 2000 den Eingangs-, aber auch den Spitzensteuersatz gesenkt. Sehen Sie hier Nachbesserungsbedarf?

Nahles: Ja. Wir haben es damals beim Eingangssteuersatz richtig gemacht, weil wir die unteren Einkommensgruppen entlastet haben. Heute wollen wir innerhalb des Steuersystems für eine gerechtere Be- und Entlastung sorgen. Wir wollen die unterschiedliche Besteuerung von Kapital und Arbeit beenden. Wir wollen den Soli für untere und mittlere Einkommensgruppen abschaffen. Und wir wollen, dass der Spitzensteuersatz später greift - nicht ab 54000 sondern 76200 Euro. Das soll durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes um drei Prozentpunkte ausgeglichen werden. Unser Ziel ist eine aufkommensneutrale Steuerreform, die untere und mittlere Einkommen entlastet, aber nicht zu einer Minderung der Steuereinnahmen führt. Denn wir haben noch viele Investitionen zu schultern: Ausbau der Ganztagsbetreuung, Sanierung der Schulen und gebührenfreie Bildung von Kita bis Studium zur Entlastung der Familien - und nicht zuletzt Investitionen in schnelles Internet, Forschung und in Zukunftstechnologien.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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