Landeszeitung Lüneburg: "Eine Art Bafög für alle" - Interview mit Arfst Wagner über Grundeinkommen
Lüneburg (ots)
Die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein will ein Art Grundeinkommen testen, berichteten Medien. Im Koalitionsvertrag steht allerdings nur, dass man mit Experten über die Möglichkeiten neuer Absicherungsmodelle diskutieren wolle. Wird es nun einen Test geben?
Arfst Wagner: Das ist tatsächlich missverstanden worden, von einem Modellversuch steht nichts im Koalitionsvertrag. Das sogenannte Zukunftslabor ist eine Arbeitsgruppe, die aber noch nicht mit der Arbeit begonnen hat. Bis auf eine Veranstaltung mit dem Ökonomen Thomas Straubhaar ist bisher nichts passiert. Ich befürchte, dass die Parteien erst nach den Verhandlungen bemerkt haben, dass sie mit diesem Passus im Koalitionsvertrag offensichtlich überfordert sind. Erstaunlich war aber die Einigkeit von CDU, FDP und Grünen in der Analyse des jetzigen Systems. Also die Frage, wie es mit unseren sozialen Absicherungssystemen aussieht, die weiter auf Erwerbsarbeit basieren. Einig war man sich, dass es angesichts Digitalisierung und Rationalisierung erhebliche Probleme geben wird. Es wird eine erhebliche Veränderung des Arbeitsmarktes geben, die das Stützen des Sozialsystems auf den Arbeitsmarkt auf Dauer unmöglich macht. Hier müssen Antworten gefunden werden. Uneins ist man nur darüber, wie man dieser Entwicklung begegnet. Die FDP favorisiert ein Bürgergeld, die CDU spricht von einem motivierenden Grundeinkommen, die Grünen von einem bedingungslosen Grundeinkommen. Allerdings ist bei den Grünen auch umstritten, ob man das überhaupt will.
Was wollen Sie denn: Liberales Bürgergeld oder bedingungsloses Grundeinkommen und in welcher Höhe?
Wagner: Die Frage der Höhe ist eine partielle Frage. Aber wenn man über die Höhe des bedingungslosen Grundeinkommens redet, muss man auch darüber reden, wie sich die Steuergesetzgebung entwickelt. Ein Beispiel: Im Gespräch ist ein Grundeinkommen von 1000 Euro. Wenn sich aber die sogenannte Staatsquote verdoppelt, ist ein Grundeinkommen von 1000 Euro Blödsinn, denn dann würde das Grundeinkommen am Ende auf 500 Euro hinauslaufen, also im Prinzip weniger als Hartz IV. Ich sehe das bedingungslose Grundeinkommen erst einmal als gesellschaftlichen Dialog. Ich sehe es als Modul einer neuen Steuergesetzgebung und eine Bildungskampagne. Denn die Motivation für Arbeit würde sich bei einem Grundeinkommen ändern. In diesem Dialog ist es eine gesellschaftlich-politische Entscheidung, wie hoch man ein Grundeinkommen im Zusammenhang mit einer Steuergesetzgebung ansetzen möchte. Aber so weit sind wir in Schleswig-Holstein noch lange nicht. Es ist überhaupt noch nicht entschieden, ob es einen Modellversuch geben soll oder zunächst eine Enquete-Kommission im Bundestag. Das ist völlig offen.
Wie hoch sollte denn das sozio-kulturelle, das sozio-ökonomische Mindesteinkommen ausfallen?
Wagner: Das ist schwierig. Auch weil es davon abhängt, wo man lebt. So sind die Mieten in Hamburg oder Sylt natürlich nicht mit denen in ländlichen Regionen vergleichbar. Es gibt noch viele weitere Fragen, zu denen ich eine klare Meinung habe, aber nicht vorgreifen will. Fest steht: Wir müssen einen Dialog führen - auch im Zukunftslabor. Hier sollen auch öffentliche Institutionen wie die Diakonie oder auch Gleichstellungsbeauftragte zu Wort kommen. Kommen wir denn langfristig an einem solchen Grundeinkommen herum? Ich finde das merkelsche Wort "Alternativlos" zwar fürchterlich, aber in diesem Fall muss ich es benutzen. Angesichts der Entwicklung des Arbeitsmarktes mit immer mehr unterbrochenen Berufsbiografien und der zunehmenden Digitalisierung und damit verbundenen Rationalisierung wird gar nichts anderes funktionieren. Dieser Arbeitsmarkt ist viel mehr am Ende als wir es uns immer noch eingestehen. Ich gebe dem Arbeitsmarkt noch fünf Jahre, dann bricht er zusammen - inklusive des gesamten sozialen Absicherungssystems.
Aber ist bei einem Zusammenbruch ein bedingungsloses Grundeinkommen überhaupt noch finanzierbar?
Wagner: Ich wundere mich immer, das die Frage der Finanzierung erst in Bezug auf das Grundeinkommen gestellt wird. Ich halte das Hartz-IV-System für nicht mehr finanzierbar. Ich habe mal ausrechnen lassen, was ein Hartz-IV-Empfänger kostet, wenn man die gesamten Kosten des ALG-2-Systems durch die Zahl der Hartz-IV-Empfänger teilt, kommt ein Betrag von rund 1700 Euro heraus. Unter anderem gibt es völlig irre Fortbildungsmaßnahmen - wenn zum Beispiel arbeitslose EDV-Fachkräfte zum dritten Mal einen EDV-Einführungskurs machen müssen, damit nicht ihr Hartz-IV-Satz gekürzt wird. In der "Hartz-Industrie" wird viel Geld verdient mit Fortbildungskursen. Dieses System ist einfach nicht mehr finanzierbar. Thomas Straubhaar betont in seinem Buch "Radikal gerecht", dass in Bund, Ländern und Kommunen derzeit pro Jahr 920 Milliarden Euro für Soziales ausgegeben werden. Wenn man die bei einem Grundeinkommen wegfallenden Bürokratiekosten nicht abrechnet, was die Sache ja noch billiger machen würde, würden 980 Milliarden Euro für ein bedingungsloses Grundeinkommen zur Verfügung stehen. Damit wäre es finanzierbar.
Frank-Jürgen Weise hat bei seinem Abschied vom Amt des Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit gesagt, man müsse Realist sein: Der Staat sollte Arbeit für Langzeitarbeitslose ohne Qualifikation bezahlen statt Hartz IV und Fortbildungsmaßnahmen. Weises Nachfolger Detlef Scheele sagt, ein Grundeinkommen sei verwerflich und nur etwas für altruistische Akademiker. Zeigt das auch die Bandbreite der Meinung in der Öffentlichkeit?
Wagner: Das ist durchaus die Spannbreite. Die einen sagen, ein Grundeinkommen ermächtigt jeden einzelnen, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Andere wie der Armutsforscher Butterwegge sagen, das Grundeinkommen lässt den Einzelnen alleine. Natürlich stellt sich bei einem Grundeinkommen die Frage, wie es zum Beispiel mit Bildungsmaßnahmen weitergehen soll. Zu meinen Veranstaltungen zum Thema Grundeinkommen kommen auch Arge-Mitarbeiter. Sie fürchten um ihre Jobs. Ich erkläre ihnen dann, wie ich mir die Arbeit der Arge in Zukunft vorstelle: Ich würde sie zu echten Fortbildungsinstitution umwandeln, wo die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirklich Zeit haben, sich um ihre Kunden zu kümmern. Ein solches System würde Sinn machen und nicht nur dazu dienen - wie es mir einmal ein Jobcenter-Leiter in Schleswig-Holstein sagte - Statistiken zu fälschen. Es soll derzeit 15 bis 17 Gruppen von Menschen geben, die aus den Statistiken herausgerechnet werden. Die Schätzungen über die Zahl der tatsächlich Arbeitslosen reichen von 10 bis 15 Millionen.
Was halten Sie denn von dem derzeit laufenden Grundeinkommen-Modellversuch in Finnland? Wagner: Es gibt noch kein Fazit, aber ein paar positive Stimmen. Der Versuch ist schwierig, weil Finnland Grundeinkommen in einer Höhe zahlt, die nicht kultur- und lebensfähig ist.
560 Euro.
Wagner: Ja. Hinzu kommt, dass es kein Querschnittsversuch ist, die 2000 ausgesuchten Teilnehmer alle arbeitslos waren. Aber unterm Strich fördert der Modellversuch die öffentliche Debatte. Genauso so wie Modellversuche in Kalifornien, Niederlande, Kenia und Namibia. Deshalb begrüße ich solche Versuche grundsätzlich. Wenn es in Schleswig-Holstein ein Grundeinkommen geben würde, würden dann im Gegenzug alle möglichen Zahlungen wie Hartz IV, Wohngeld oder Kindergeld wegfallen? Ein Sinn des Grundeinkommens ist auch, die rund 150 verschiedenen Sozialleistungen in Deutschland zu entschlacken und zukunftsfest zu machen. Ich würde nicht sagen, dass diese Leistungen abgeschafft werden, vielmehr werden sie transformiert in ein Grundeinkommen, quasi eine Art Bafög für jeden. Eine Summe für alle, für jeden Menschen. Weil es für jeden Menschen irgendeinen Grund gibt, warum er ein solches Einkommen braucht. Zum Beispiel, weil er es braucht, um seine Würde zu wahren, wenn es ihm mal schlechter geht.
Wie lautet ihr Fazit?
Wagner: Ich weiß, dass ein Grundeinkommen finanzierbar ist. Es darf im Gegenzug aber nicht zu einer radikalen Abschaffung des Sozialstaates kommen. Wir brauchen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen bedingungslosem Grundeinkommen und funktionsfähigem Sozialstaat. Für mich hat das Grundeinkommen eine wunderbare Seite: Die Idee des Grundeinkommens kann gesellschaftsübergreifend gedacht werden. Wir müssen eine steuerliche Lösung finden, die Unternehmen einen Anreiz gibt, mit in das System einzusteigen. Arbeit sollte geringer besteuert werden, Kapital und Produkte höher - zum Beispiel nach skandinavischem Vorbild eine Luxussteuer einführen. Den Unternehmern sage ich dann, wenn man die Konsumsteuer erhöht, müssten die Menschen eine monatliche steuerliche Rückerstattung in Höhe von 1200 Euro erhalten. Viele Unternehmer sind dann schnell für ein Grundeinkommen, weil sie wegen geringerer Arbeitskosten günstiger produzieren können, Steuern erst zahlen müssen, wenn das Geld in der Kasse ist. Und weil Menschen mit einem Grundeinkommen wieder Geld für den Konsum haben. Wer das Sozialsystem zu Ende denkt, wird um ein Grundeinkommen nicht herumkommen. Es ist Notwendigkeit und Chance zugleich.
Zur Person:
Arfst Wagner, Jahrgang 1954, ist Schriftsteller, Lehrer und Politiker der Grünen. Er gehörte von 2012 bis 2013 dem Bundestag an, war von 2015 bis 2017 Landeschef der Grünen in Schleswig-Holstein. Wagner hat zahlreiche Publikationen verfasst und engagiert sich seit 2005 stark für das Thema bedingungsloses Grundeinkommen, nahm an zahlreichen Veranstaltungen bundesweit teil. Wagner ist verheiratet und hat drei Kinder.
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