Landeszeitung Lüneburg: Der Blick in die Glaskugel Forscher spielen überraschende Szenarien durch: Was passiert, wenn etwa die Türkei aus der NATO austritt?
Lüneburg (ots)
Von Joachim Zießler
Von Wallenstein ist bekannt, dass er vor Feldzügen seine Sterndeuter befragte. Übernimmt die SWP mit ihren "Foresight-Studien", die fiktive Szenarien durchspielen, diesen Job künftig in Berlin? Dr. Lars Brozus: (lacht) Da haben Sie sich eine schöne Auftaktfrage überlegt. Wir machen das schon anders, befragen unseren Intellekt und nicht die Sterne. Dabei gehen wir so vor, dass wir zunächst fragen, was könnte eigentlich passieren, wenn wir überraschende Entwicklungen einkalkulieren. Die Politik ist angesichts vieler unerwarteter Ereignisse in der Vergangenheit gut beraten, sich methodisch und konzeptionell auf Überraschungen einzustellen. Wir spielen solche hypothetischen Situationen auf wissenschaftlicher Grundlage durch.
Mauerfall, 9/11, Trump-Wahl, Brexit und die Krim-Annexion trafen die Regierenden alle unvorbereitet. Weil die Zukunft nun mal unvorhersehbar bleibt oder weil Vorzeichen übersehen wurden? Dr. Brozus: Beides stimmt. Tatsächlich gab es in den meisten genannten Fällen durchaus entsprechende Hinweise. Denken Sie beispielsweise an 9/11, als in den verschiedenen US-Geheimdiensten Hinweise auf einen großen, in den USA geplanten Anschlag vorlagen. Die Informationen wurden allerdings nicht zusammengeführt. Wir haben es oft nicht mit einem Mangel an Informationen zu tun, sondern mit einer Interpretation, die Überraschungen nicht einkalkuliert. Ähnlich war die Lage 2008, als im Vorfeld der Finanzkrise durchaus einige Analysten vor dem Platzen der Immobilien- und Kreditblase gewarnt hatten. Das Problem ist immer, wie man die politischen Entscheinungsträger dazu bringen kann, sich mit denkbaren Überraschungen auseinanderzusetzen.
Hat sich die Aufnahme Ihrer "Vorausschau"-Studien seit dem Debüt 2011 in Berlin gewandelt? Dr. Brozus: Ja, eindeutig. Anfangs überwog die Zurückhaltung, es hieß: "Wir haben so viel mit den tatsächlichen Problemen zu tun, dass keine Zeit mehr bleibt, auch noch Hypothesen durchzuspielen." Heute wird aus der Politik eher der Wunsch an uns herangetragen, derartige Studien öfter vorzulegen als in unserem bisherigen Zwei-Jahres-Rhythmus. Dass die Aufnahme sehr viel positiver ist als früher, hängt auch damit zusammen, dass Vorausschauen normaler geworden sind. Fast alle Ministerien verfügen mittlerweile über Referate, die sich mit Foresight beschäftigen - nicht zuletzt, weil in der Politik die Erkenntnis gereift ist, dass es häufiger zu Überraschungen kommt als früher. In einer nach dem Urteil des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier aus den Fugen geratenen Welt läuft der politische Prozess öfter ungeplant und erratisch.
Würde ein Mehr an Strategie in der deutschen Außenpolitik die Verantwortlichen besser vorbereiten, einfach, weil die Definierung von Zielen und Möglichkeiten den Blick in die Zukunft zwingend voraussetzt? Dr. Brozus: Unvorhergesehenes besser bewältigen zu können setzt tatsächlich mehr strategische Kompetenz voraus. Die Politik sollte sich zumindest auf absehbare Umbrüche - die sogenannten grauen Schwäne, im Unterschied zu den nicht vorhersehbaren schwarzen Schwänen - besser einstellen. Aktuelles Beispiel ist die Entscheidung von Donald Trump, das Atomabkommen mit dem Iran zu verletzen. Die Reaktion der Europäer darauf wirkte so, als seien sie überrascht worden. Das hätte besser laufen können.
Ziemlich treffsicher war das Brexit-Szenario der SWP von 2013. Überraschend war eigentlich nur, wie uneinig die britische Regierung über den Brexit ist, und wie wenig sich die Kontinentaleuropäer von London auseinanderdividieren ließen. Ein Erfolg Ihrer Warnungen vor dem Spaltpilz? Dr. Brozus: Die Frage nach der Wirkung unserer Studien ist schwer zu beantworten. Man darf nicht vergessen, dass der Kollege Nicolai von Ondarza drei Jahre, bevor das Referendum tatsächlich stattfand, den Ablauf eines hypothetischen Brexit durchdacht hat. Da dürften viele EU-Politiker noch auf ein "Remain" gehofft haben. Vorteilhaft für ihn war, dass er die Austritts-Regeln der EU quasi als Leitplanken für seine Studie benutzen konnte. So lief der eigentliche Verhandlungsprozess ziemlich genau so, wie er es erwartet hatte. Allerdings hat er die Fliehkräfte in der EU über- und die im britischen Kabinett unterschätzt.
In Ihrer jüngsten Studie treiben Sie die Entfremdung zwischen der Türkei und dem Westen auf die Spitze, lassen Ankara aus der NATO austreten. Ein Szenario, das beklemmend plausibel wirkt. Was kann Europa machen, um die Türkei von der schiefen Ebene der Geiselnahme von Urlaubern und Waffendeals mit Putin zu schieben? Dr. Brozus: Um diese Frage zu beantworten, haben wir zunächst die Situation entworfen, wie es dazu kommen könnte, dass mit der Türkei der südöstliche NATO-Pfeiler wegbricht. Die Handlungsoptionen, um dies zu verhindern, sind gar nicht so weit weg von der realen Türkeipolitik: Wie setzt man die Anreize, damit sich in der Türkei wichtige Gruppen - wie etwa die exportorientierte Wirtschaft oder säkulare, reformorientierte Bewegungen - dafür einsetzen, dass ihre Regierung dem Westen nicht den Rücken kehrt. Wir können solche Situationen allerdings offener durchdenken als manche Ministerien, die politische Verantwortung tragen.
Die von ihrem Institut hypothetisch angenommene Einigung der Golf-Vormächte Saudi-Arabien und Iran auf Einflusszonen wirkt angesichts der derzeitigen Trumpschen Brachial-Diplomatie nicht sehr wahrscheinlich. Ist es umso wichtiger, ein derartiges Szenario zu durchdenken, um für eine derartige Entspannung nach Trump gewappnet zu sein? Dr. Brozus: Genau, das ist eine der Funktionen von "Foresight", also des wissenschaftlich angeleiteten Vorausschauens. Es geht auch darum, die normale Entwicklung gegen den Strich zu denken. Wenn man das macht, also kontraintuitiv denkt, zeigt sich, dass beide Länder einige gute Gründe hätten, enger zusammenzuarbeiten. Und dies trotz des religiösen und machtpolitischen Gegensatzes zwischen ihnen. So würden beispielsweise Handel und Wirtschaft der Rivalen von einer Annäherung profitieren. Ein weiteres Beispiel: Vor einem halben Jahr hätten wir es noch für äußerst unwahrscheinlich gehalten, dass es zu einem Gipfeltreffen der beiden koreanischen Präsidenten kommt. Und ganz aktuell wirkt es so, als ob eine weitere Entspannung zwischen Nord- und Südkorea unwahrscheinlich wäre. Das zeigt, wie stark die internationale Politik Schwankungen unterworfen ist, wie schnell Prozesse kippen können.
Sie haben das Szenario durchdekliniert, was passieren könnte, wenn eine Kandidatin aus den USA, also einem ständigen Mitglied des Weltsicherheitsrates, UN-Generalsekretärin wird. Wäre dies der Todesstoß für die Legitimität der Weltorganisation? Dr. Brozus: Das ist eine gute Frage. Was mich reizte an dieser Vorstellung ist die Verknüpfung der Reformagenda des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres mit der Macht des Trios USA, Russland und China. Bisher haben diese als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ohnehin privilegierten Staaten darauf verzichtet, den Spitzenposten zu beanspruchen. Würden die Vereinten Nationen durchsetzungsfähiger werden, wenn die mächtigen Staaten auch an dieser Stelle Verantwortung übernehmen? Es könnte in diese Richtung gehen. Und so wie nur der konservative US-Präsident Nixon die Entspannung gegenüber China einleiten konnte, könnte Trump als eigentlich ausgewiesener UNO-Gegner den Anstoß für eine Reform der Weltgemeinschaft geben. Innenpolitischen Widerspruch der oppositionellen Demokraten hätte er in dem Punkt kaum zu fürchten.
In welche Krise werden wir als Nächstes stolpern? Dr. Brozus: Tja, was sehen wir nicht? Wir werden mit Sicherheit wieder überrascht werden. Deswegen wäre es wichtiger, sich besser darauf vorzubereiten, mit den unweigerlichen Überraschungen umzugehen. Daher sollten Krisenreaktionsverfahren ausgebaut werden. An der SWP arbeiten wir daran, den hier vorhandenen Sachverstand im Falle überraschender Entwicklungen gebündelt einsetzen zu können, um Politik und Öffentlichkeit rasch mit Informationen und Ideen zur Seite zu stehen.
Haben Sie im Institut schon den sich aufschaukelnden Gegensatz zwischen Israel und dem Iran sowie die amerikanische Attacke auf das Atomabkommen durchgespielt? Dr. Brozus: Eine Zuspitzung zwischen den USA und Israel einerseits und dem Iran andererseits haben wir intern tatsächlich schon vor Jahren diskutiert.
Beunruhigt es Sie, dass Vorzeichen eines Aufheizens der Situation von vielen Politikern ignoriert werden? Dr. Brozus: Ich habe ein gewisses Verständnis dafür. Angesichts der Erosion der internationalen Ordnung sind eine Vielzahl von parallelen Krisen zu bearbeiten. Es ist nicht überraschend, dass die Politik oft im entscheidenen Moment gerade woanders hinschaut.
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