All Stories
Follow
Subscribe to Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg: Angst vor dem Wettrüsten Abrüstungsexperte Wolfgang Richter von der Denkfabrik SWP sieht Aufkündigung des INF-Vertrags zu Mittelstreckenraketen durch Trump kritisch

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Er gilt als erfolgreichster Abrüstungsvertrag der Geschichte, schaffte der INF-Vertrag 1987 doch als einziger bei den damaligen Supermächten USA und UdSSR gleich eine ganze Waffengattung ab: die landgestützten Mittelstreckenraketen, also Flugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern. Dennoch kündigte US-Präsident Donald Trump Ende Oktober an, den Vertrag aufzukündigen. Er wirft Russland vor, sich nicht mehr an die Vereinbarungen zu halten, was der Kreml bestreitet. Außerdem sieht Trump in Chinas Mittelstreckenraketen eine Gefährdung der USA. Abrüstungsexperte Oberst a.D. Wolfgang Richter, der als Wissenschaftler in der Berliner Denkfabrik "Stiftung Wissenschaft und Politik" forscht, sieht Trumps Vorstoß im "Interview der Woche" kritisch. "Es widerspricht jüngsten Positionen der NATO. Und mit dem INF-Vertrag würde ein weiterer Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsordnung und der globalen nuklearen Ordnung wegbrechen. Unberechbarkeit und Destabilisierung würden zunehmen." Europa müsse der Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens entschieden entgegentreten, sagt Richter, 35 Jahre, nachdem der Bundestag die Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen beschloss.

Donald Trump hat angekündigt, den INF-Vertrag über ein Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen aufzukündigen. Droht uns in Europa ein neues nukleares Wettrüsten wie in den 80er-Jahren oder hat Russland dieses längst eröffnet? Wolfgang Richter: Ich glaube nicht, dass Moskau ein Wettrüsten beginnen will. Allerdings könnte es zu einem nuklearen Wettrüsten kommen, wenn nach der Aufkündigung des INF-Vertrages auch noch die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa oder Ostasien beschlossen würde. Noch sind aber nicht alle Mittel ausgeschöpft, um den Kollaps des INF-Vertrages zu verhindern. So könnten die Anschuldigungen durch Verifikation vor Ort überprüft werden. Doch selbst, wenn die USA einseitig den Vertrag kippen, ist damit nicht automatisch eine Stationierung von Raketen verknüpft. Noch im Juli haben sich die NATO-Mitglieder in Brüssel im Konsens dazu bekannt, den INF-Vertrag zu erhalten, und Russland zur Transparenz aufgefordert. Insofern kam Trumps Ankündigung in der Tat überraschend. Die Verbündeten wurden vorab nicht konsultiert, sondern nur informiert. Solange Russland keine Feldverbände mit Mittelstreckenraketen aufstellt, sollte der Westen ebenfalls keine INF-Systeme stationieren. Das wäre nicht im Interesse Europas. Wie sehr würde ein Kollaps des INF-Vertrages die Sicherheitsarchitektur Europas beschädigen? Das wäre eine ernste Angelegenheit. Die europäische Sicherheitsordnung beruht wesentlich darauf, dass bestehende Rüstungskontrollverträge eingehalten werden. Ihre Erosion begann schon 2001, als Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr kündigte. 2007 suspendierte dann Russland den KSE-Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, während die NATO-Staaten die Ratifizierung des KSE-Anpassungsabkommens blockierten. Mit dem INF-Vertrag würde das dritte Kernstück dieser Vertragsarchitektur zusammenbrechen. Dies würde die politische Atmosphäre weiter verschlechtern und auch den New-START-Vertrag über die Verringerung strategischer Atomwaffen unter Druck setzen. Er läuft 2021 aus. Sollte er nicht verlängert werden, hätten wir im nuklearen Bereich erstmals seit 1968 überhaupt keine vertraglich gesicherten Begrenzungen mehr. Der INF-Vertrag gilt als erfolgreich, weil er als einziger das Aus einer ganzen Waffengattung besiegelt hatte. Wurde er durch den Ausbau von Flotteneinheiten mit Marschflugkörpern ausgehöhlt? In der Tat haben bodengestützte Mittelstreckenraketen keine militärisch exklusive Rolle mehr wie beim Abschluss des INF-Vertrages 1987. Denn mittlerweile gibt es sehr zielgenaue Marschflugkörper, die von Flugzeugen oder Schiffen gestartet werden. Die Folgerung, dass der Vertrag nicht mehr so relevant sei, weil die Funktionen bodengestützter Raketen teilweise von anderen Systemen übernommen wurden, mag in einer sehr engen militärischen Auslegung zutreffen. Aber der INF-Vertrag hat auch eine politisch herausragende Bedeutung; denn die Abschaffung einer kompletten Kategorie von Trägersystemen für Nuklearwaffen war ein historischer Wendepunkt, der den Kalten Krieg beendete und die Konfrontation durch Sicherheitskooperation ersetzte. Wenn der Kreml neue verbotene Marschflugkörper, die SSC-8, nicht nur entwickelt, sondern sogar stationiert hat, wieso kann Washington dann keine Beweise vorlegen? Das ist eine gute Frage. Ich denke, dass die USA ihre Quellen nicht vollständig offenlegen wollen. Den Bündnispartnern haben sie offenbar vertrauliche Indizien mitgeteilt. Doch wirkt es befremdlich, dass die Partner nicht über eigene gesicherte Erkenntnisse verfügen. Auch sie verfügen über technische Aufklärungsmittel. Allerdings können Satellitenaufnahmen keine Blaupausen verifizieren und nicht jeden Flugtest aufzeichnen. Möglicherweise bezieht sich das Weiße Haus auf menschliche Quellen. Die aber können unzuverlässig sein, wie wir bei der amerikanischen Begründung des Irak-Kriegs im Sicherheitsrat 2003 gesehen haben. Die angeblichen neuen Massenvernichtungswaffen in der Hand Saddam Husseins wurden nie gefunden. Sollte Russland jedoch Feldverbände mit neuen INF-Systemen ausgestattet haben, so gäbe es mobile Raketenträger, Versorgungs- und Instandsetzungselemente und eine feste Infrastruktur, die man mit technischen Mitteln aufspüren könnte. Zudem erlaubt der Vertrag über den offenen Himmel von 1992 gegenseitige Beobachtungsflüge, auch um die Vertragstreue zu überprüfen und Verdachtsfälle aufzuklären. Da die Flüge kooperativ durchgeführt werden und auch multilateral stattfinden können, können sie eine gemeinsame Datengrundlage schaffen. Luftbilder können allerdings nur ungefähre Indikationen der Reichweite von Raketen liefern. Eine exaktere Reichweitenbestimmung könnte man dann durch Vor-Ort-Inspektionen und Waffenvorführungen erlangen. Das müsste gegenseitig geschehen, denn auch die Russen werfen den Amerikanern Vertragsbruch vor. Angenommen, Moskau hat sich die neue Mittelstreckenwaffe zugelegt - möglicherweise auch mit Blick auf China - wäre es dann nicht sinnvoller, auf den INF-Vertrag pochend zu verhandeln statt ihn zu kündigen? Das wäre sicherlich vernünftiger. Oft wird behauptet, Russland habe - anders als die USA - eine Sicherheitslücke, weil es von Nachbarn umgeben ist, die über Mittelstreckenraketen verfügen - also China, Indien, Pakistan und Nordkorea. Dabei wird übersehen, dass Moskau seine Kaspische Flottille mit Marschflugkörpern ausgerüstet hat, die diesen geografischen Nachteil ausgleichen. Russland hat im September 2015 seinen Syrien-Einsatz von dort gestartet und Ziele über 1600 Kilometer erfolgreich angegriffen. Damit hat es bewiesen, dass es seine Südflanke abdecken kann. Hinzu kommen seine luftgestützten Marschflugkörper und diejenigen, die auf Schiffen der Nord- und Pazifikflotte verteilt sind. Der militärische Mehrwert durch eine Stationierung von bodengestützten Raketen wäre also gering, das politische Risiko aber hoch. Denn ich glaube nicht, dass Russland ein Wettrüsten lange durchstehen könnte. Welchen Hebel hätte Deutschland, Russland zur Aufdeckung seiner Karten zu bewegen? Es gibt eine Reihe gemeinsamer Projekte, die im russischen Interesse liegen: Das Normandie-Format, in dem Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine sich um die Befriedung des Ukrainekonflikts bemühen; die neue Vierer-Gruppe zu Syrien, die aus der Türkei, Russland, Deutschland und Frankreich besteht; die Kooperation beim Gastransfer. Und der Kreml weiß, dass Deutschland zu den Staaten gehört, die innerhalb der NATO nicht nur für die Bündnissolidarität eintreten, sondern auch die NATO-Russland-Grundakte bewahren wollen, sich gegen eine massive Stationierung von Großverbänden direkt an der russischen Grenze aussprechen und den Sicherheitsdialog intensivieren wollen. All dies würde Moskau aufs Spiel setzen, wenn es Europa mit der Stationierung bodengestützter Marschflugkörper bedrohen würde. Inwieweit verstoßen die in Rumänien stationierten, amerikanischen Startgeräte der Raketenabwehr gegen den INF-Vertrag, wie Moskau behauptet? Der INF-Vertrag verbietet in der Tat nicht nur die Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometer, sondern auch die dafür vorgesehenen bodengestützten Startsysteme. Die US-Abschusssysteme vom Typ MK-41 Aegis ashore, die in Rumänien und künftig auch in Polen an Land eingesetzt werden, befinden sich in einer Grauzone. Denn die Mk-41 Launcher werden auf Aegis-Zerstörern für den Start von Raketenabwehrflugkörpern, U-Boot-Abwehrraketen und eben auch von Marschflugkörpern verwendet. Washington hat erklärt, dass die Aegis ashore Systeme wegen ihrer veränderten Software und Verkabelung nur zum Start von Abwehrraketen geeignet seien. Zudem habe man sich im Stationierungsvertrag mit Rumänien dazu verpflichtet, die Systeme nur defensiv zu nutzen. Das überzeugt Moskau nicht. Auch hier könnte eine gegenseitige Verifikation zur Klärung beitragen. Trump stellte seine Entscheidung in den Zusammenhang des machtpolitischen Ringens der USA mit Russland und China. Fällt der Bündnispartner Europa auf Dauer vom sicherheitspolitischen Radar der USA? Die Gefahr besteht. Trump hat in seiner Begründung für die Kündigung des INF-Vertrags Europa überhaupt nicht erwähnt. Er benannte nur einen strategischen Nachteil für die USA, keine Bedrohung für Europa wie noch in den Jahren 1979-1987. Trumps Hinweis auf China ist wenig glaubwürdig. Weltweit verfügt China nur über ca. 2 % aller Nuklearwaffen, die USA und Russland zusammen weit über 90 %. Allerdings besitzt China ein großes Potential an konventionellen bodengestützten Mittelstreckenraketen. Etwa 90 Prozent davon würden unter die INF-Verbotsregeln fallen. Daher sind die Chancen für ein Einvernehmen mit den USA gering. Denn China müsste dann fast alle seine Raketen aufgeben und die Amerikaner nichts. Eine etwaige Einigung auf gleiche Obergrenzen wäre aus europäischer Sicht eine noch schlechtere Lösung, weil sie es auch Russland ermöglichen würde, solche Waffen in Europa zu stationieren. Würde ein Drängen Washingtons auf eine Stationierung von Mittelstreckenraketen die NATO in eine Koalition der Stationierungswilligen und eine der Unwilligen spalten? Die Möglichkeit würde ich nicht völlig ausschließen angesichts der polnischen Bereitschaft, bilaterale Abkommen mit den USA zu schließen. Denken Sie nur an die polnische Einladung an die USA, eine komplette Panzerdivision permanent in Polen zu stationieren und dies mit bis zu zwei Milliarden Dollar mitzufinanzieren. Die Garnison sollte dann "Fort Trump" genannt werden. Bilateralismus gab es schon einmal, als George W. Bush 2007 mit Polen und Tschechien den Aufbau von strategischen Raketenabwehrstellungen in diesen Ländern verabredete. Barack Obama hat diesen Ansatz wieder gekippt und durch eine bündnisgemeinsame abgestufte Raketenabwehr ersetzt. Es sollte aber nicht im Interesse Polens liegen, eine Spaltung der NATO herbeizuführen. Deswegen hoffe ich, dass Polen diesen Weg nicht einschlagen wird. Würde Trump mit seinem Wunsch nach neuen Raketen vom Repräsentantenhaus eingebremst werden? Nein, das glaube ich nicht. Schließlich sieht die Nuclear Posture Review, also der jüngste Bericht zu den nuklearen Fähigkeiten der USA, bereits die Entwicklung bodengestützter Marschflugkörper vor. Der Kongress hat die Finanzierung dieses Projektes gebilligt.

Oberst a.D. Wolfgang Richter forscht in der Arbeitsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik. Der Berliner Thinktank ist der größte Europas und berät Bundestag und Bundesregierung. Der Fallschirmjäger Richter diente im NATO-Hauptquartier SHAPE in Mons. Er war 1989 in der deutschen Delegation der Wiener KSE-Verhandlungen und 2005 bis 2009 Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE in Wien.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

Original content of: Landeszeitung Lüneburg, transmitted by news aktuell

More stories: Landeszeitung Lüneburg
More stories: Landeszeitung Lüneburg