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Landeszeitung Lüneburg: SPD muss wie Labour wieder Verteilungsfragen stellen Sigmar Gabriel im Interview: Wer Populismus einhegen will, muss soziale Antworten auf den entgrenzten Kapitalismus finden

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Werden die Renaissance des Nationalen und der Aufstieg der Populisten dafür sorgen, dass für Deuschland und Europa die Phase einer werteorientierten Außenpolitik endet? Kommen Macht- und Realpolitik zurück?

Sigmar Gabriel: Ich finde diese Trennung künstlich. Tatsächlich orientieren sich Demokratien immer an Werten und Interessen. Zwischen 1945 und 1990 ist ein Übergewicht interessenorientierter Politik festzustellen, weil der Westen mit der Sowjetunion einen machtpolitischen Gegner hatte. Dann gab es eine vergleichsweise kurze Phase werteorientierter Außenpolitik, in der die Verfolgung eigener Interessen nicht mehr dominant war. Das zieht sich hin bis zum Afghanistan-Krieg. Man kann das Credo von George W. Bush, mit Militärinterventionen Demokratie in die Welt zu bringen, durchaus auch in diesem Sinne interpretieren. Diese Politik resultierte aus der Annahme, Demokratie und Kapitalismus hätten gesiegt, und es gäbe keine Alternative mehr zu ihnen. Heute stellen wir fest, dass dies ein Irrtum war. Die liberale Weltordnung ist unter Druck. Jetzt beginnt das Nachdenken über die eigenen Interessen neu. Unter anderem, weil der bisherige Garant der liberalen Weltordnung, die USA, sich notfalls auch zu Lasten der eigenen Verbündeten - wie Deutschland und Europa - ausschließlich auf die Verfolgung der eigenen Interessen zurückzieht. Wir ärgern uns deshalb so sehr über Donald Trump, weil er jeden Tag vorführt, wie groß die Differenz zwischen unseren moralischen Ansprüchen und unseren Möglichkeiten ist. Das bedeutet, wir müssen unsere Möglichkeiten verbessern. Und das geht nur, wenn wir uns über unsere Interessen im Klaren sind.

Die eigene Nation ist längst nicht mehr nur für Trump das Maß aller Dinge, in Moskau und Peking, aber auch in Rom und Warschau teilt man diese Weltsicht. Ist dieser Pendelschlag auch das Ergebnis gescheiterter Interventionen in Libyen, dem Irak und Afghanistan?

Zunächst mal wäre ich sehr vorsichtig mit dem Begriff Fehlschlag. Der Afghanistan-Einsatz wurde befohlen, weil das Land zur Terror-Basis herabgesunken war. Al-Quaida bedrohte nicht nur die USA, sondern auch Europa und Deutschland. Die Zerstörung der Terror-Basis ist gelungen. Aber selbstverständlich hätte sich jeder im Westen einen durchgreifenderen Erfolg dieser Einsätze gewünscht, also mehr Stabilität und Schritte hin zu einer Demokratisierung. Was die Welt derzeit in Unruhe versetzt, ist etwas anderes: Wer über Nationalismus und Populismus redet, darf über Kapitalismus nicht schweigen. Viele Menschen haben zu Recht den Eindruck, dass das Versprechen, die Globalisierung allen nur Gutes bringen werde, nicht eingehalten wurde. Der Eindruck, von den eigenen Eliten belogen worden zu sein, hat sich erstmals in der Finanzkrise aufgedrängt, als quasi über Nacht Hunderte Milliarden Dollar mobilisiert wurden, um einen aus der Kontrolle geratenen Bankensektor zu retten. Und er wird noch heute genährt, wenn Bürger in gutem Glauben Autos kaufen, um später Bußgelder zu riskieren, wenn sie mit diesen in für sie gesperrte Straßenzüge fahren. Das bringt Bürger gegen "die da oben" in Wallung. Die Aufgabe ist nun, auf diese Formen des entgrenzten Kapitalismus wieder soziale Antworten zu liefern, um Sicherheit nach innen und außen versprechen zu können. Und da haben Nationalisten ein vermeintliches Angebot: den Rückzug in eine Welt, in der sich jeder selbst der Nächste ist. Die Frage ist, ob wir als Europäer auch eine Antwort haben.

Die Suche nach einer Antwort fällt schwerer, jetzt wo die Briten aus dem Geleitzug ausscheren. Wird das Projekt Europa scheitern, wenn in der EU noch mehr populistische Europa-Gegner wie in Rom an die Macht gewählt werden?

Zumindest steht zum ersten Mal zu befürchten, dass Europa scheitern kann. Das wäre vor Jahren noch undenkbar erschienen. Den Brexit darf man aber nicht einfach und ausschließlich unter der Rubrik Populismus abbuchen. Das ist nur eines der Motive. Schon Winston Churchill hat einst Charles de Gaulle gesagt: "Haben wir die Wahl zwischen der offenen See und dem Kontinent, entscheiden wir uns für die offene See." Auf der Insel wird nationale Identität sicher anders definiert als auf dem Kontinent. Aber auch die soziale Frage ist sehr wichtig. In den Arbeitervierteln Großbritanniens wurde überwiegend für den Brexit gestimmt, die Arbeiterviertel in Irland und Frankreich haben im Referendum gegen den Vertrag von Nizza, die Arbeiterviertel der Niederlande gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine gestimmt. Offenbar herrscht der Eindruck vor, dass Europa sein Versprechen von mehr Wohlstand und Sicherheit nicht überall einhält. Emmanuel Macron hat die richtigen Vorschläge gemacht, um dieses Versprechen wieder mit Leben zu erfüllen. Schlimm ist, dass Deutschland sehr zögerlich antwortet.

Schließt sich das Zeitfenster noch schneller, falls im Mai Europa-Gegner im europäischen Parlament die Mehrheit gewinnen? Ist dann der Europäische Rat der letzte Bannerträger der europäischen Idee?

Ich denke, wir werden tatsächlich eine Phase erleben, in der eher der Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs als das europäische Parlament die EU-Idee hochhält. Dabei kann das Ziel eines immer engeren Zusammenschlusses der Union vorerst nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat einst gesagt: "Die Demokratie braucht Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann." Also das Streben der Bürger nach Freiheit und Demokratie. Das lässt sich auch auf Europa anwenden: Europa braucht Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen kann, nämlich die Bereitschaft seiner Mitgliedsstaaten, für Europa einzutreten.

Sie haben nach der Eskalation um die Krim die Entsendung von NATO-Kriegsschiffen als "Kanonenbootpolitik" abgelehnt. Wären Kanonenboote nicht hilfreich, um den NATO-Partnern Türkei, Rumänien und Bulgarien zu signalisieren...

...wie weit sollen die denn gehen? Einige Vertreter der Ukraine wollten uns in einen Krieg mit Russland verwickeln. Glauben wir wirklich, dass wir damit die Probleme lösen? Die Brisanz dieses Konfliktes ist einer der Gründe, warum die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wurde. Wäre sie Teil des Bündnisses, hätten wir jetzt nach Artikel 5 den Bündnis-Fall und müssten in den Krieg ziehen. Man darf das Vorgehen Russlands nicht gutheißen. Es ist völkerrechtswidrig. Die Krim gehört nach unserem Verständnis nicht zu Russland, also hat Moskau auch nicht das Recht, den Seeweg ins Asowsche Meer zu sperren. Dies widerspricht im übrigen auch bilateralen Verträgen beider Staaten. Die Frage ist: Soll die Antwort Krieg lauten? Ich sage nein.

Könnte der Stopp der North-Stream-Gaspipeline eine Antwort sein? Wem würden wir denn damit schaden?

Russland jedenfalls nicht...

...Uns! Solange russisches Erdgas durch Polen fließt, durch die Jamal-Pipeline, ist scheinbar alles in Ordnung, denn Jamal wird nie in Frage gestellt. In dem Moment, wo es nach Frankreich, Italien, die Niederlande und Deutschland fließt, soll es böses Gas sein. Es gibt durchaus Bedingungen für North Stream 2, etwa den Erhalt der Sojus-Pipeline durch die Ukraine. Das hat Putin mehrfach angeboten. Warum machen wir nicht endlich einen Vertrag mit ihm? Eigentlich sollte die europäische Gas-Infrastruktur besser vernetzt werden, damit wir unabhängiger werden und Ausfälle besser kompensieren können. Stattdessen sollen wir politisch in den Gas-Markt intervenieren, folgt man den interessanterweise in den USA erhobenen Forderungen...

... wo man Absatzmärkte für sein Flüssgas sucht... ... das 30 Prozent teurer ist. Hier geht es auch um knallharte wirtschaftliche Interessen, und da dürfen Frankreich, die Niederlande, Italien und wir schon sagen, dass wir es unseren Unternehmen überassen wollen, wo sie ihr Gas beziehen.

Aber zumindest die Lockerung der Sanktionen müsste vom Tisch sein, oder? Ich denke, die Sanktionen müssen so lange aufrechterhalten bleiben, bis wir Moskau dazu bewegen können, eine UNO-Blauhelmmission in der Ost-Ukraine zuzulassen. Mit einem robusten Mandat könnte die endlich einen Waffenstillstand und den Rückzug schwerer Waffen durchsetzen. Verfehlt wäre aber ein Ansatz, der nur vom Kreml fordert. Die von Korruption zerfressene Regierung in Kiew ist ebenso an der Verletzung von Waffenstillstandsbemühungen beteiligt wie die russische.

Zurück ins Inland: Obwohl Labour ebenso mit dem Verlust des traditionellen Arbeitermilieus zu kämpfen hat, ist die Partei mittlerweile die mitgliederstärkste in Europa. Was kann die SPD von Labour lernen?

Ich glaube nicht, dass man sich Versatzstücke aus den sozialdemokratischen Bewegungen der Nachbarländer herauspicken kann. Labour hat zum Beispiel auch Erfolg mit einem klar euro-skeptischen Kurs. Sollen wir uns deshalb gegen die EU wenden? Wir müssen als SPD in Deutschland vor allem Partei der Arbeit bleiben. Die Sozialdemokratie stand am Beginn der ersten industriellen Revolution und steht jetzt an der vierten. Was wir von Labour lernen können, ist die Bereitschaft, Verteilungsfragen zu stellen. Wir reden also nicht nur davon, wie Wohlstand und wirtschaftlicher Erfolg entsteht, sondern auch, wie er gerecht verteilt wird. Das haben wir in den letzten Jahrzehnten - und das sage ich jetzt ganz selbstkritisch - zu wenig getan. Stattdessen haben wir uns auf Identitätspolitik beschränkt. Es ist zwar wichtig, sich um Schwulenrechte, Gleichstellung und den Klimaschutz zu kümmern, doch das machen die Mitbewerber auch. In den Augen mancher sind wir zu einer weiteren bürgerlichen Partei geworden. Das spezifisch Sozialdemokratische ist allerdings, sich für eine gerechte Verteilung des Wohlstands einzusetzen. Früher betrug der Anteil von Löhnen und Gehältern am Vokseinkommen 78 Prozent, heute noch 68. Zugleich stiegen die Einkünfte aus Kapital und Vermögen. Das Thema begegnet uns bei der Digitalisierung wieder. Wer soll eigentlich die Effizienzgewinne bekommen? Nur die, die ihre Firmen digitalisieren oder auch die Arbeitnehmer, die höhere Flexibilität aufweisen müssen. Darum muss sich die SPD kümmern. Sie darf nicht den Eindruck erwecken, sie würde sich ausschließlich um Sozialhilfe-Politik kümmern.

Muss die SPD ihren Erfolg der Hartz-IV-Reformen verleugnen, um wieder ihre klassischen Wählerschichten anzusprechen?

Nein, ich sehe es pragmatischer. Kein Mensch kann eine Rückkehr zu dem fürchterlich ungerechten System wollen, dass wir vor der Agenda 2010 hatten. Damals hatten Sozialhilfeempfänger nicht mal einen Anspruch auf Beratung bei den Arbeitsämtern. Aber natürlich gibt es bei Hartz IV Reformbedarf. Der große Fehler war, dass jemand der lange gearbeitet hat, im Falle der Arbeitslosigkeit genauso behandelt wird wie einer, der noch nie gearbeitet hat. Es ist auch falsch, die Kindergelderhöhung immer mit einzurechnen, und den Eigenbehaltanteil so gering anzusetzen, dass der Anreiz, etwas dazu zu verdienen, gering ist. Ich halte aber gar nichts davon, die Sanktionen abzuschaffen. Was sollte jemand davon halten, der für einen geringen Lohn malocht, wenn andere ungestraft Arbeit verweigern dürften, um weiter vom Staat finanziert zu werden? Das würde nicht verstanden werden. Es muss weiter um fördern, aber auch um fordern gehen.

Das Trio der möglichen Merkel-Nachfolger profiliert sich derzeit eher in der Rechtsauslage. Erleichtert das der SPD die Abgrenzung der Union? Man sollte nicht darauf zu setzen, dass andere Parteien Fehler machen. Wir müssen uns auf unsere Kraft besinnen. Und die gilt es dafür einzusetzen, dass in der Gesellschaft Bedingungen herrschen, dass jedes Leben gelingen kann. Dass aus jedem Menschen etwas werden kann, egal, wer seine Eltern sind, welche Hautfarbe, welches Geschlecht oder welche Religion er hat. Das ist sozialdemokratisches Profil.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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