Landeszeitung Lüneburg: Gewissheiten über Bord CDU-Außenpoltiker Roderich Kiesewetter kritisiert Trumps sprunghafte Syrien-Politik und fordert, dass Europa für seine Sicherheit selbst sorgt
Lüneburg (ots)
Von Joachim Zießler
Lüneburg/Berlin. Erst kündigt US-Präsident Donald Trump den Abzug der 2000 US-Soldaten aus Syrien an. Das war nichts weniger als ein Verrat an den kurdischen YPG-Milizen, die in den vergangenen Jahren als die Bodentruppen der USA in Syrien gekämpft haben. Denn Ankara würde bei einem Einmarsch in Syrien wohl vor allem Kurden und weniger den IS bekämpfen. Jetzt rudert Washington zurück, forderte Sicherheitsgarantien für die Kurden - und holte sich in Ankara eine Abfuhr. Roderich Kiesewetter, Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuss, kritisiert, dass in Washington "keine Gesamtabwägungsprozesse mehr stattfinden und außenpolitische Gewissheiten über Nacht über Bord geworfen werden." Da die Einhegung des "unberechenbaren" US-Präsidenten über die UN wenig erfolgversprechend sei, fordert Kiesewetter im "Interview der Woche" der Lüneburger Landeszeitung, dass die Europäer die sicherheitspolitischen Fähigkeiten entwickeln, um "weltpolitikfähig" zu werden.
Erst kündigt US-Präsident Trump den schnellen Abzug der GIs aus Syrien an, jetzt rudert er zurück und fordert von Erdogan Sicherheitsgarantien für die Kurden. Hat ihm jemand deutlich machen können, dass sein Alleingang ein verheerender strategischer Fehler war? Roderich Kiesewetter: Ich gehe davon aus, dass Trump somit die syrischen Kurden nun doch vorerst vor einem Angriff der Türkei schützen möchte. Ferner geht es ihm auch um die mit einem Angriff höchstwahrscheinlich einhergehende Freilassung von 2000 IS-Kämpfern und Familienangehörigen in kurdischen Gefängnissen.
Welchen Wert hätte eine Zusicherung Erdogans, die "Kurden nicht abzuschlachten", wenn keine US-Truppen als Wächter mehr vor Ort sind? Es geht nicht um einen Genozid, der bevorsteht, sondern um die Machtausdehnung der Türkei bis tief in die kurdischen Gebiete. Dadurch soll eine regionale Vormachtstellung etabliert werden. Die türkischen Truppen sind ja schon an der Grenze zusammengezogen. Ein anderer Punkt kommt hinzu: Die Türkei kann den IS nicht wirksam nachhaltig bekämpfen. Ihr fehlen schlicht und ergreifend die Ressourcen, so weit wie nötig nach Syrien vorzudringen.
Da Trump den Weltsheriffsstern verweigert, sind Russland, die Türkei und der Iran die neuen Ordnungsmächte im Nahen Osten. Im Kreml wird man sich mit Krim-Sekt zuprosten, dass man so frühzeitig diesem Kandidaten den Weg ins Weiße Haus geebnet hat, oder? Trump ist nicht nur für uns Europäer unberechenbar, er ist es auch für Russland. Im Gegensatz zu uns ist Russland allerdings stets in Gegnerschaft zu den USA. Insofern nutzt Russland jedes Machtvakuum im Nahen Osten geschickt, das die USA unter Trump freigeben, ohne dabei zu viele Ressourcen zu verschwenden. Zugleich wissen die Russen, dass ein Wiederaufbau und politische Stabilität nicht durch eine dauerhafte militärische Präsenz möglich ist und enorme finanzielle Ressourcen verschlingen wird. Deshalb bestünde gerade durch eine aktivere Rolle der USA die Möglichkeit, Russland Zugeständnisse abzuringen.
Trumps Innenpolitik bestimmt die Außenpolitik. Der Deal mit Nordkorea sollte von den Russland-Ermittlungen gegen ihn ablenken. Die Truppenabzüge aus Afghanistan und Syrien die Anhänger zufriedenstellen. Muss sich Europa auf eine Phase der Sprunghaftigkeit einstellen, in der strategisches Denken out ist? Das ist meines Erachtens schon seit einiger Zeit der Fall. Außen- und Innenpolitik sind immer verknüpft, auch bei politischen Entscheidungen in anderen Staaten. Allerdings ist dies bei Trump eine Einbahnstraße, die gewissermaßen seine "America-First"-Politik operationalisiert. Dabei finden zunehmend keine Gesamtabwägungsprozesse statt und außenpolitische Gewissheiten werden über Nacht über Bord geworfen.
Können Paris und Berlin den sprunghaften US-Präsidenten einhegen, wenn sie im März beziehungsweise April den Vorsitz im Weltsicherheitsrat übernehmen? Das glaube ich nur bedingt. Wir wollen allerdings alles dafür tun, die multilaterale internationale Ordnung aufrechtzuerhalten. Als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat legen wir unseren Fokus neben der Bewältigung und der Prävention von Konflikten darauf, weitere Themen auf die Agenda setzen. Dazu gehört der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Sicherheitspolitik, die Stärkung des humanitären Systems, Abrüstung und Rüstungskontrolle, Menschenrechtsfragen und die Rolle der Frauen bei Konfliktprävention und -bewältigung.
Bleibt der Entwurf einer einheitlichen Strategie Europas Illusion in einer Ära, in der die EU Großbritannien verliert und sich immer mehr Bürger von ihr abwenden? Sicher sind die strategischen Kulturen der europäischen Staaten noch teilweise sehr unterschiedlich. Dennoch haben wir uns auf eine Globale Strategie der EU geeinigt und finden auf immer mehr Ebenen Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Dies müssen wir beherzt intensivieren bei gleichzeitiger Erklärung der Notwendigkeit an unsere Bürgerinnen und Bürger.
Ist die Zeit vorbei, in der sich Europa auf die Aufnahme von Flüchtlingen und die Stabilisierung von Staaten spezialisierte, während die USA die kriegerischen Aufgaben übernahm? Fakt ist, dass es einer fairen transatlantischen Lastenteilung bedarf und wir als Europäer "weltpolitikfähig" werden müssen, wie dies der derzeitige Kommissionspräsident ausgedrückt hat. Dafür sollten wir auch die notwendigen Fähigkeiten vorhalten, ohne die es nicht möglich ist.
Der stetige Wechsel zwischen Drohungen und Umarmungen ist auch Trumps Taktik gegenüber China. Wird sein strategisches Unvermögen den Aufstieg Chinas und Amerikas Abstieg beschleunigen? Ja, davon gehe ich aus.
Ist der Verrat Trumps an den kurdischen YPG-Milizen auch ein Lehrstück für die NATO? Das Zurückstutzen des Paktes war auch ein Wahlkampfversprechen. Sollte sich Europa darauf einstellen, bald ohne Schutzmacht zu sein, wenn Trump seine Umfrageprozente erhöhen will? Der Rückzug aus Nordsyrien ist ja mittlerweile schon verschoben. Selbstverständlich sollte sich Europa künftig selbst um seine Sicherheit kümmern. Trump pocht auf die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels, das ein gemeinsam vereinbartes Ziel der Europäer mit Präsident Obama darstellt. Gleichzeitig erhöhen sich bei uns die Militärausgaben und wir sind mit den Trendwenden dabei, die Bundeswehr wieder besser aufzustellen. Dies braucht Zeit. In den USA besteht parteiübergreifend Konsens, die enge Bindung mit den Europäern zu erhalten und dass dies im zentralen nationalen Interesse steht.
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