Landeszeitung Lüneburg: Brexit wurde zur Religion Dr. Nicolai von Ondarza (SWP): Theresa May ist zum Problem geworden. Nur das Volk kann den Knoten durchschlagen
Lüneburg (ots)
Von Joachim Zießler
Haben Sie im Sommer 2016 damit gerechnet, dass am Tag des eigentlichen Brexit-Termins alle wesentlichen Fragen noch offen sein könnten? Dr. Nicolai von Ondarza: Ich habe zusammen mit vielen anderen zwar damit gerechnet, dass es bis zum letzten Moment dramatisch sein könnte. Aber das noch wirklich alle Optionen offen sind, und keine der Seiten ihre Version eines Großbritanniens nach dem Brexit aufgegeben hat, kommt wirklich überraschend. Was wir über die nun fast drei Jahre währende Debatte erlebt haben, ist, dass nicht nur das Lager der harten Brexit-Anhänger erstarkte, sondern - wie jüngst eine Million Demonstranten und fünf Millionen Petititonsunterzeichner belegen - auch das Lager der EU-Befürworter.
Theresa May hat mit dem Angebot der Selbstaufopferung ihren letzten Trumpf vergeblich gezogen. Wird sie dennoch weiter das Land auf die Brexit-Klippe zurasen lassen in der Hoffnung, dass Brexiteers, Labour oder gar die EU am Ende einknickt? Man muss klar sagen, dass Mays Strategien nicht aufgegangen ist. Sie wollte Großbritannien vor die Klippe fahren, um dann die harten EU-Gegner einzuschüchtern: Stimmt für meinen Deal, sonst gibt es gar keinen Brexit. Und den EU-Befürwortern wollte sie sagen: Stimmt für meinen Deal, sonst gibt es den No-Deal-Brexit. Diese doppelte Drohung ist nach hinten losgegangen. Durch ihre Strategie hat sie Vertrauen verspielt, sowohl in ihrer eigenen Partei als auch in der EU. Der jüngste EU-Gipfel hat klar gezeigt, dass die anderen Staats- und Regierungschefs nicht mehr davon ausgehen, dass Theresa May noch eine stabile Mehrheit hinter ihrem Deal versammeln kann. Und der Beschluss des Unterhauses vom Montagabend, auch über alternative Szenarien zum Brexit abstimmen zu wollen, belegt eine Machtverschiebung - weg von der Regierung, deren Domäne dies ist, hin zum Parlament. Selbst ihre jüngste Ankündigung, nach dem Austritt zurückzutreten und die nächste Phase der Verhandlungen einem anderen Premier zu übergeben hat nicht ausgereicht, um eine Mehrheit für ihr Abkommen zu erreichen. Aus meiner Sicht ist Theresa May selbst zum Problem im Brexit-Prozess geworden. Die Briten werden in sehr kurzer Zeit eine personelle Alternative für die Downing Street 10 finden müssen, wenn sie aus dieser vertrackten Lage herauskommen wollen.
Speaker John Bercow hat Mays Plan, ein drittes Mal über ihren Deal abstimmen zu lassen, mit Verweis auf eine 415 Jahre alte Regel vereitelt. Hat das Brexit-Gezerre auch Webfehler des traditionell konfrontativen britischen Parlamentarismus aufgedeckt? Eine der großen Ursache für die Schwierigkeiten der britischen Politik, eine Lösung in der Brexit-Frage zu finden, ist deren Ausrichtung auf das Prinzip: "The winner takes it all". Das heißt, dass sich nach einer Konfrontation der Gewinner vollständig durchsetzt. Das Prinzip, einen überparteilichen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition zu suchen, ist in Großbritannien überhaupt nicht angelegt. Entsprechend hat sich Theresa May verhalten, als ob sie einer starken Regierung vorstehen würde. Tatsächlich sitzt sie aber einer Minderheitsregierung vor und ist völlig abhängig von den harten EU-Gegnern in der eigenen Partei und der nordirischen DUP. Sie hat es nie geschafft, nicht mal versucht, eine stabile Mehrheit aufzubauen. Nun ist es für sie dafür zu spät. Die Regierung will offensichtlich auch auf Konfrontation mit dem Speaker gehen und eine dritte Abstimmung noch am Freitag erzwingen.
Wie groß ist die Gefahr, dass bloßer Überdruss im britischen Parlament, oder auch in den Hauptstädten des Kontinents Großbritannien doch noch über die Klippe des harten Brexit kippen lässt? Die Gefahr ist weiterhin real. Man hat sich lediglich zwei weitere Wochen Zeit gekauft. Aber zugleich hat die EU die Bedingungen hochgeschraubt. So gibt es eine weitere Verlängerung nur, wenn das Parlament doch noch dem ungeliebten Deal zustimmt oder wenn die Briten an den Europawahlen teilnehmen - eine für viele Europagegner auf der Insel inakzeptable Vorstellung. Zudem hat sich die europäische Haltung zum harten Brexit geändert: Man erwartet in diesem Fall immer noch erhebliche wirtschaftliche Folgen, doch man sieht sich vorbereitet.
Die Möglichkeit wird auch wahrscheinlicher, dass die EU bald unter Zeitdruck mit einem Premier Boris Johnson verhandeln muss. Wird sich der Kontinent noch nach dem aktuellen Desaster namens May zurücksehnen? Das glaube ich nicht. Würde Boris Johnson Premier, hätte er sich zumindest zuvor bei den Tories mit seiner Brexit-Haltung durchgesetzt. Und der Kontinent hätte zumindest eine klare Vorstellung davon, mit welchem Ziel er verhandelt. Das größte Problem jetzt ist gar nicht so sehr die fehlende Mehrheit, sondern dass die Briten seit drei Jahren ergebnislos mit sich selbst verhandeln.
Das Unterhaus konnte den Brexit-Knoten erneut nicht durchschlagen. Bleibt die am knappsten gescheiterte Alternative - das zweite Referendum - das einzige Schwert, um den Knoten noch zu durchschlagen? Ja. Ich glaube nicht, dass die Blockade ohne Neuwahlen oder ein zweites Referendum aufgelöst werden kann. Denn die gegnerischen Lager stehen sich im Unterhaus zu unversöhnlich gegenüber. Die Frage ist allerdings, ob es für einen dieser Schritte eine Mehrheit gibt. Wir erleben jetzt eine intensive parlamentarische Phase, in der die Abgeordneten über alle Varianten abstimmen - Mays Deal, no Deal, ein weicher Brexit, eine Zollunion bis hin zur Zurücknahme des Brexit. Bekommt das Unterhaus in den nächsten gut zwei Wochen aber keine mehrheitsfähige Haltung hin, kann die Alternative zum No-Deal-Brexit nur sein: eine Verlängerung des Austritts bis zum Ende 2019, inklusive Europawahlen im Königreich und in diesem Zeitraum Neuwahlen und/oder ein zweites Referendum.
Welchen Hebel hat die EU in der Hand, um auf einen solchen Neustart hinzuwirken? Der Neustart kann nur aus Großbritannien selbst erfolgen. Europa verfügt über einen Hebel und den haben die Regierungschefs vergangene Woche auch bereits betätigt: Sie haben die Position eingenommen, eine Gefährdung der EU-Wahlen und der europäischen Institutionen nicht hinzunehmen. Und deshalb gewährten sie nur eine Verlängerung bis zum 12. April. Das ist der letzte Tag, an dem in Großbritannien regulär die Vorbereitungen für die Europawahl gestartet werden müssten. Die EU ist gut beraten, sich nicht mit eigenen Vorschlägen in den innenpolitischen Prozess in Großbritannien einzumischen. Vielmehr sollte sie signalisieren, bereit zu sein für eine lange Verlängerung unter der Bedingung, dass an Wahlurnen ein Ausweg aus der Brexit-Sackgasse gesucht wird. Eine weitere kurzfristige Verlängerung ohne derartige Vorgaben macht keinen Sinn.
Die jüngsten Debatten im Unterhaus hinterließen den Eindruck einer reinen Nabelschau, wie sie allenfalls zu Zeiten des Empire noch gerechtfertigt war. Ist die Ignoranz gegenüber den Interessen der 27 Noch-Partner und den Mechanismen des Clubs, dem man sich einst angeschlossen hatte, ein spezifisch britisches Problem? Die teils aus Unwissen, teils aus Ignoranz gespeiste EU-Skepsis der Briten findet man auch auf dem Kontinent. Aber auf der Insel ist der Glaube viel stärker verwurzelt, noch eine Großmacht zu sein, die eine eigene, starke Rolle in der Welt spielen kann. Dabei ist Großbritannien wie die anderen europäischen Mächte auch nur ein kleiner Fisch im Vergleich zu den USA oder China. Hinzu kommt die mentale Insellage. Europa ist der Kontinent, zu dem man reist, dessen Teil man aber nicht ist. An Europas Debatten nimmt man nicht teil. So kommt es, dass noch heute Abgeordnete oder sogar Minister Vorschläge machen, die mit Europa von vornherein nicht machbar sind.
Iren, Dänen, Franzosen und Niederländer haben jeweils europäische Referenden wiederholt. Wieso gilt im Königreich eine erneute Abstimmung als Verstoß gegen das Fair Play, die inhaltlich sehr weitreichende Auslegung eines knappen Mehrheitsvotums aber nicht? Das ist einer der vielen Widersprüche, die die Brexiteers nicht auflösen können. Wegen der im Königreich geltenden Parlamentssouveränität war das Referendum von 2016 eigentlich unverbindlich. Dennoch wurde es zum Maß aller Dinge erklärt. Zudem lehnen Regierung und Brexiteers nach drei Jahren harter Auseinandersetzung ein erneutes Referendum ab, haben aber kein Problem damit, drei Mal über denselben Austrittsvertrag abzustimmen. Erklärbar wird das nur dadurch, dass in der Konservativen Partei harte Brexit-Anhänger die Mehrheit haben, für die der Brexit quasi den Status einer Religion gewonnen hat. Diesen Glauben wollen sie nicht hinterfragen lassen.
In der Brexit-Frage sind sowohl die Tories als auch Labour in sich gespalten. Haben die britischen Wähler überhaupt die Chance, für klare Verhältnisse zu sorgen? Das ist eine der großen Fragen. Bei einem Referendum würde zumindest ein klares Ergebnis rauskommen, wobei schon die Formulierung der Frage höchst umstritten sein dürfte. Bei Neuwahlen ist durchaus fraglich, wie die Parteien ein stimmiges Wahlprogramm zum Brexit vorlegen wollen. Denn in der Tat liegen Welten zwischen harten EU-Gegnern wie Jacob Rees-Moog oder Boris Johnson, die am liebsten morgen ohne Deal austreten würden, und konservativen Abgeordneten wie Dominic Grieve, die die Rücknahme des Brexit-Beschlusses wollen. Ebenso gespalten ist die Labour-Partei. Vor Neuwahlen würde May sicher gestürzt werden. Noch ist offen, ob dann ein EU-Gegner oder ein Kompromisskandidat aufs Schild gehoben wird. Ebenso unklar ist, ob Labour offen ein zweites Referendum fordern wird, oder ob sich Jeremy Corbyn weiterhin alle Optionen offen hält. Die Antworten auf diese Fragen entscheiden darüber, ob Neuwahlen für klare Verhältnisse sorgen können.
Theresa May wollte sicherlich als nervenstarke Exekutorin des Brexit-Referendums in die Geschichte eingehen. Nun stellt sich eher die Frage: Ist sie eine noch schlechtere Premierministerin als David Cameron, der ihr das Schlamassel eingebrockt hat, oder Lord North, der die 13 Kolonien verspielte? Stand jetzt wird sie als eine der schlechtesten Premiers der britischen Geschichte eingehen, trotz ihres großen Pflichtbewusstseins. Sie hat eine schlechte Ausgangslage durch ihr Taktieren in der eigenen Partei und den verheerenden Neuwahlbeschluss noch weiter verschlechtert. Sie hat in drei Jahren nicht einmal ansatzweise einen Parteienkonsens geschweige denn einen nationalen Konsens ermöglicht. Dieser Makel wird ihr Bild auch in den Geschichtsbüchern beschatten. Und nach John Major und David Cameron wird sie vermutlich die dritte konservative Regierungschefin sein, die wegen Europafragen aus dem Amt gejagt wird.
Zur Person
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe Europa bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Er ist der Brexit-Experte von Europas größtem Think Tank. Die SWP berät Bundesregierung und Bundesrat.
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