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Es gibt zwei Boris Johnsons Dr. Nicolai von Ondarza von Europas größter Denkfabrik SWP: Satte Mehrheit ermöglicht ihm das Durchregieren, weit weg von der EU oder nah dran

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Hatte Boris Johnson mit "Get Brexit done" genau die Formel gefunden, um die Stimmen derer abzufischen, die des Gezerres überdrüssig waren? Dr. Nicolai von Ondarza: Man muss schon sagen, dass Johnson wieder ein Gespür für die Briten gezeigt hat. Und mit dieser Formel, den Brexit durchzuziehen, nahm er die Stimmung auf, dass endlich Klarheit geschaffen werden muss. Es gab aber noch zwei weitere Gründe für seinen klaren Wahlsieg: Zum einen gelang es ihm, die Brexiteers wieder hinter sich zu vereinen, auch die Anhänger der Brexit Party. Zugleich blieb das Remain-Lager zwischen Liberaldemokraten und Labour gespalten. Zum zweiten half ihm die Schwäche Labours. Gerade für konservative Wähler der politischen Mitte war Jeremy Corbyn mit seinem radikalen Wirtschaftsprogramm nicht wählbar.

Gehört zu den strategischen Fehler der Opposition auch, dass Corbyn sich weigerte, in der zentralen Frage dieser Wahl Stellung zu beziehen? Die unklare Position Labours zum Brexit hat dazu beigetregen, dass das Remain-Lager gespalten blieb. 52 Prozent der Wähler haben für Parteien gestimmt, die gegen den Brexit oder zumindest für ein zweites Referendum waren. Aber Labours Lavieren, zwar für ein zweites Referendum zu sein, aber sich nicht festzulegen, dann für einen Verbleib in der EU zu werben, hat einen Pakt mit den Liberaldemokraten verhindert. Dagegen hatte es Johnson geschafft, die Brexit Party zum Verzicht auf eigene Kandidaten in bisherigen Tory-Wahlkreisen zu bewegen. Die Einigkeit der Brexit-Befürworter und die Uneinigkeinigkeit der Brexit-Gegner haben ihm beim britischen Mehrheitswahlrecht in die Karten gespielt.

Jo Swinson reihte auch Fehler an Fehler. Sie ernannte sich zur Premierminister-Kandidatin und wollte sich sich nicht an das Referendum halten. Ein Tabubruch in der britischen Fair-Play-Kultur? Die Liberaldemokraten wurden für zwei strategische Fehler bestraft. Sie hielten den Brexit für das zentrale Thema dieser Wahl. Doch es trug nicht so gut, dass sie am Ende vor Labour landeten. Sondern wie zuvor stürzten ihre Umfragewerte vor dem Wahltermin massiv ab. Der zweite Fehler war in der Tat, den Brexit ohne zweites Referendum absagen zu wollen. Das stieß selbst vielen Brexit-Gegnern auf, die davon überzeugt waren, den EU-Austritt nur mit einem Mandat der Bevölkerung verhindern zu können. So passt ins Bild, dass Jo Swinson ihren eigenen Sitz auch gegen die SNP verloren hat - und sogleich als Parteivorsitzende zurücktrat.

Der Brexit kommt, so viel ist nun klar. Wird Johnson versuchen, nochmal mit der EU nachzuverhandeln, ohne Vertrag auszusteigen oder einfach seinen Deal durchs Parlament bringen? Wir können davon ausgehen, dass er seinen Deal, so wie er ist, durch das Parlament bringen wird. Weder wird die EU nachverhandeln noch hat Johnson selbst ein Interesse daran, einen No-Deal-Brexit zu provozieren. Vor allem erlaubt ihm seine satte Mehrheit auch, über die ganz harten EU-Gegner der sogenannten "Europäischen Forschungsgruppe" hinweggehen zu können. Wir können also ziemlich sicher einen geordneten Austritt Großbritanniens am 31. Januar erwarten. Was wir aber noch nicht wissen, ist, wie es weitergeht. Eigentlich müsste in der Übergangsphase bis Ende 2020 ausgehandelt werden, wie das wirtschaftliche, sicherheitspolitische und handelspolitische Verhältnis zwischen Insel und Kontinent aussehen wird. Im Wahlkampf hat Johnson klar gesagt, dass er diese Übergangsphase nicht verlängern will, weil London in dieser Phase weiter in den EU-Haushalt einzahlen und sich an EU-Gesetze halten muss. Aber in Brüssel und London gibt es große Zweifel, dass man in elf Monaten ein ambitioniertes Handelsabkommen aushandeln kann.

Wird Johnson da sein erstes Wahlversprechen brechen und verlängern? Zwar sind elf Monate tatsächlich knapp, doch die Übergangsphase kann nur bis zum 1. Juli 2021 verlängert werden. Deshalb erwarte ich, dass nach elf Monaten zumindest ein Basisabkommen steht. Und in den vergangenen zwei Monaten hat Johnson gezeigt, dass er zu großen Zugeständnissen gegenüber der EU bereit war, solange er diese noch als Erfolg verkaufen konnte.

Werden die Briten nun ihrer nächsten Illusion beraubt, weil schon wieder eine Phase der Ungewissheit beginnt? Ich erwarte in Großbritannien, aber auch der EU ein großes Durchatmen. Mit dem formalen Austritt kann dieses Kapitel beendet werden. Aber die nächsten Verhandlungen schließen sich unmittelbar an und man wird in Großbritannien das komplette nächste Jahr wieder über den Brexit diskutieren. Also wird auch der Streit weitergehen. Denn die zentrale Frage haben die Briten immer noch nicht beantwortet: Welches Verhältnis wollen sie mit der EU haben? Wie eng wollen sie an die EU angebunden sein? Wie eng an Trumps Amerika?

Sollte die EU bei diesen Verhandlungen großzügiger als bisher auftreten, um die Achse Trump-Johnson zu untergraben? Das wird für die EU schon eine schwierige strategische Entscheidung. Bisher ist sie bei den Verhandlungen sehr einig aufgetreten. Aber die Frage, wie eng sie mit einem großen Nachbarn zusammenarbeiten will, der nicht Mitglied der EU werden will, hat Spaltpotenzial. Hier bedarf es einer strategischen Debatte auf dem Kontinent. Wie viel Zugeständnisse wollen die 27 Großbritannien machen, um es nah bei sich zu behalten? Oder soll man hart bleiben, um den Zugang zu britischen Fischgründen durchzusetzen?

Ging es Johnson primär um die Machteroberung oder hat er einen weitergehenden Plan, etwa ein Singapur an der Themse? Noch ist ein klarer Plan nicht zu erkennen. Es gab in der Vergangenheit zwei Boris Johnsons: Den weltoffenen, die Einwanderung befürwortenden Bürgermeister von London, der den liberalen Flügel der Tories repräsentierte. Und einen Boris Johnson nach 2016, der sich an die Spitze des rechten Flügels seiner Partei gestellt und lange auf einen harten Brexit abgezielt hat. Er hat jetzt eine so satte Mehrheit, dass weder auf die wenigen verbliebenen EU-Freunde noch auf die extremen Nationalisten Rücksicht nehmen muss. Was macht er damit? Will er einen harten Schnitt mit der EU, soziale und steuerliche Standards senken, um ein wettbewerbsfähiges Singapore-on-Thames zu kreieren? Oder nutzt er die Beinfreiheit, um eine engere Zusammenarbeit mit der EU zu verabreden? Die Antwort auf diese Fragen wird zeigen, wer der eigentliche Boris Johnson ist.

Hätte Labour das Desaster verhindert, wenn die Partei dem Faktenverdreher Johnson nicht den sozialistischen Eiferer Corbyn entgegengestellt hätte? Corbyn ist es im Wahlkampf nicht gelungen, wie 2017 eine Aufholjagd zu starten. Tatsächlich wurde aus dem in Großbritannien traditionellen Haus-zu-Haus-Wahlkampf immer wieder berichtet, dass Wähler gesagt hätten, sie seien eigentlich gegen den Brexit, aber Corbyn sei wegen seines sozialistischen Wirtschaftsprogramms und des Antisemitismus in seiner Partei nicht wählbar. Für viele Wähler der Mitte war Johnson das geringere Übel gegenüber Corbyn. Labour muss jetzt darüber diskutieren, ob die Partei wieder zurück in die Mitte will oder die Politik Corbyns fortführen will - aber mit anderem Personal. Bemerkenswert ist, dass es Corbyn nicht gelang, mit seinem traditionellen Labour-Programm die Arbeiterschaft hinter sich zu bringen. Die Konservativen sind bei dieser Wahl bei den Arbeitern zur stärksten Partei aufgestiegen. Corbyn hat weniger Arbeiter angesprochen als Tony Blair, der Labour in die Mitte gerückt hatte.

Ausgerechnet die unter Thatcher entkernten ehemaligen Industrieregionen in Nord- und Mittelengland haben für Johnsons Triumph gesorgt... ...die ehemaligen Labour-Hochburgen haben Johnson gewählt. Aber das zeigt auch noch mal, wie heterogen Johnsons Allianz für den Brexit ist. Er wird zum einen unterstützt von Bürgern, die eine maximal deregulierte, liberale Wirtschaft à la Singapore-on-Thames wollen. Aber auch von ehemaligen Labour-Wählern, die eher eine Abschottung à la "buy british" wollen. Dieser Widerspruch wird Johnson bei den Verhandlungen im kommenden Jahr einholen.

Sowohl Johnson als auch Corbyn haben ihre Parteien durch Säuberungen auf Linie gebracht. In der Folge sitzen nun deutlich extremere Vertreter im Unterhaus. Zudem ist das Volk polarisiert wie nie. Drohen us-amerikanische Verhältnisse eines Kulturkampfes ohne jede Kompromissmöglichkeit? Das steht zu befürchten. Zwar hat Johnson heute in seiner ersten Rede gesagt, er wolle ein Premier für ganz Großbritannien sein, also auch für seine Gegner. Allerdings befürchte ich, dass er eine derart polarisierende Figur ist, dass sich die Spaltung in Großbritannien noch verstärkt. So hat sich die Kluft zwischen Schottland und England vertieft, die zwischen London und dem Land und die zwischen jung und alt. Bei den unter 39-Jährigen lag Labour vorn, bei den Älteren Boris Johnson. Setzt Johnson seine harte Brexit-Vision durch, kann er das Vereinigte Königreich nicht hinter sich vereinigen.

Die beiden ehemaligen Premiers Tony Blair und John Major hatten empfohlen, nicht zwingend ihre Parteien, sondern taktisch zu wählen. Zeigt das, wie wenig das Mehrheitswahlrecht den Willen des Volkes widerspiegelt? Das Mehrheitswahlrecht prägt schon sehr das Ergebnis. Es ermöglichte den Konservativen eine satte Mehrheit der Mandate, obwohl eine Mehrheit der Bürger für Parteien gestimmt hat, die gegen den Brexit oder zumindest für ein zweites Referendum waren. Aber die Wahlen zeigten auch, dass die Briten eher Parteien als Personen wählen. Denn viele der ehemaligen Konservativen, die aus der Partei gedrängt wurden oder selbst austraten, traten als Unabhängige an. Etwa Dominic Grieve, David Gauke oder Anna Soubry - keiner von ihnen konnte sein Mandat verteidigen. Das Gleiche gilt für die Tories, die zu den Liberaldemokraten gewechselt waren. Die Zugkraft der beiden großen Parteien ist also noch hoch.

Die Wahl zeigt: Der Hadrianswall ist noch eine mächtige Grenze. Die erstarkte Scottish National Party wird die Sezession Schottlands wird wieder auf die Tagesordnung bringen. Hat Johnson den ersehnten Platz in den Geschichtsbüchern ergattert - und zwar als der Premier, der das Vereinigte Königreich spaltete? Das zeichnet sich zumindest nicht unmittelbar ab. Denn Schottland kann nicht im Alleingang ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten, sondern braucht dafür die Zustimmung des britischen Parlaments. Zwar hat die SNP jetzt ein starkes demokratisches Mandat, um dies zu fordern, doch Boris Johnson hat dies in den vergangenen Wochen bereits abgelehnt. Seine Unbeliebtheit erhöht das Risiko, dass sich der Norden der Insel in einer derartigen Abstimmung abspaltet. Abzuwarten bleibt, ob die SNP ihren legalistischen Kurs zugunsten eines katalonischen verlässt.

Dr. Nicolai von Ondarza ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Europa/EU bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). Er ist der Brexit-Experte von Europas größtem Think Tank. Die SWP berät Bundesregierung und Bundesrat.

Pressekontakt:

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Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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