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Neue Westfälische: "Der Druck im Studium ist viel zu groß" INTERVIEW: Der scheidende Bielefelder Uni-Rektor Dieter Timmermann

Bielefeld (ots)

Bielefeld. Der Rektor der größten Hochschule der
Region hat heute seinen letzten Arbeitstag. An der Universität 
Bielefeld gibt Dieter Timmermann (66) nach neun Jahren das Amt ab. 
Als Wissenschaftler bleibt er der Uni, die 40 Jahre alt wird, 
erhalten. Mit ihm sprach unser Redakteur Elmar Kramer.
Herr Professor Timmermann, es liegt schon einige Jahre zurück, 
trotzdem die Frage: Was haben Sie an Ihrem Studium genossen?
DIETER TIMMERMANN: Ich habe die vielen Freizeitmöglichkeiten in den 
ersten Semestern geschätzt. Volkswirtschaftslehre war in Bonn ein 
Studium ohne Zwischenprüfung, ohne Vordiplom. Es gab keinen 
Studienplan, kein Curriculum. Ich habe viel Fußball gespielt. Was ich
genossen habe, war die kleine Lerngruppe mit vier, fünf Kommilitonen.
Das war üblich in den letzten Semestern. Da haben wir eigentlich erst
richtig studiert.
Sie haben auch über den Tellerrand geblickt?
TIMMERMANN: Ja. Das erste Jahr war ein Orientierungsjahr. Ich habe 
Soziologie gehabt, Veranstaltungen in Kunstgeschichte gehört, in 
Philosophie. Es ist ganz wichtig, das Studium als selbstständige 
Auseinandersetzung mit den Dingen zu begreifen und nicht als Zeit, in
der man einfach dasitzt und zuhört.
Da wird mancher Bachelor-Student von heute neidisch.
TIMMERMANN: Ja, heute ist das leichter gesagt als getan, weil das 
Studium so vollgepfropft ist.
Die Politik wollte mit der Einführung des Bachelors international 
vergleichbare Studiengänge schaffen, die Wirtschaft jüngere 
Absolventen haben.
TIMMERMANN: Ich muss heute feststellen, dass da einiges 
schiefgelaufen ist. Die drei Bachelor-Jahre sind vollgestopft mit 
Wissensvermittlung. Oft haben Studierende phantasielose Prüfungen, 
manchmal nur noch Klausuren. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn sie 
oberflächlich und für die Klausur lernen.
Es dominieren Leistungspunkte.
TIMMERMANN: Leider. Heute kann man nicht die ersten Semester locker 
angehen lassen, sondern muss von Anfang an Punkte sammeln. Sonst 
verlängert sich das Studium - und das kostet Geld. Der Druck ist 
groß, diszipliniert zu studieren. Deshalb brauchen wir eine Reform 
der Studienreform.
Einen anderen Bachelor also?
TIMMERMANN: Ja. Wir sollten Studierende entlasten von einigen 
Verpflichtungen, damit sie mehr Zeit für das eigene Lernen und für 
den Blick über den Tellerrand haben. Wir müssen Studiengänge haben, 
die Persönlichkeitsbildung und Wissenschaftsorientierung bieten. Und 
in denen es weniger darum geht, für einen Beruf zu qualifizieren.
Aber das war doch Ziel des Bachelors?
TIMMERMANN: Ich glaube, dass eine Uni und auch eine Fachhochschule 
nicht für Berufe qualifizieren kann. Höchstens für den Forscherberuf,
aber doch nicht für den Manager eines Handelsunternehmens.
Einspruch aus der Wirtschaft!
TIMMERMANN: Die oft gehörte Forderung nach mehr Praxisbezug ist genau
falsch. Ich bin gegen das enge Verständnis von Qualifizierung. Ein 
Studium muss in erster Linie wissenschaftlich sein. Das setzt sich 
langsam in der Wirtschaft durch.
Nähe zum Beruf auch nicht an Fachhochschulen, die ja Hochschulen 
für angewandte Wissenschaften sind?
TIMMERMANN: Ja. Persönlichkeitsbildung durch Beschäftigung mit 
Wissenschaft weckt und stärkt die kognitiven Kräfte. Das heißt nicht,
dass ein Hochschulprofessor seinen Studierenden nicht zeigt, wo eine 
Theorie praktisch umgesetzt und wo sie relevant ist. Vielleicht nicht
bei theoretischen Physikern, die den Urknall erforschen, aber bei 
Wirtschaftswissenschaftlern, die über Kostenrechnung sprechen. Eine 
FH kann mit mehr Praxisbeispielen arbeiten, während die Uni mit 
wenigen Beispielen in die Tiefe geht, ein höheres Abstraktionsniveau 
bietet und Gesamtzusammenhänge darstellt.
Geht das in drei Jahren Studium?
TIMMERMANN: Nein. Wir werden einen Vier-Jahres-Bachelor brauchen. Am 
besten mit vielen, die wie in den USA oder Kanada Fächer kombinieren.
Zum Beispiel dass jemand, der einen Bachelor in Psychologie und 
Soziologie hat, den Master in Rechtswissenschaften macht. Mixturen 
von Kompetenzen würden Deutschland guttun.
Wie sieht das ideale Studium der Zukunft aus?
TIMMERMANN: Es sollte die Lernkräfte der Menschen aktivieren, nicht 
die Kraft, von einer Veranstaltung oder Klausur zur nächsten zu 
jagen. Menschen sollten befähigt werden, mit anderen 
zusammenzuarbeiten, zu diskutieren. Sie sollen sich richtig 
reinwühlen in eine Materie und nicht nur an der Oberfläche bleiben. 
Erst wenn Studierende das Gefühl haben, sich intellektuell entfalten 
zu können, kommt Spaß am Lernen auf.

Pressekontakt:

Neue Westfälische
Jörg Rinne
Telefon: 0521 555 276
joerg.rinne@neue-westfaelische.de

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