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Neue Westfälische (Bielefeld)

Neue Westfälische: Kommentar Koalitionsverhandlungen Die Kanzler-Präsidentin THOMAS SEIM

Bielefeld (ots)

Die neue Regierungskoalition aus CDU, CSU und
FDP steht. Sie ist derzeit ohne relevante Alternative. Insofern ist 
der Streit, den CDU-Vize Christian Wulff am Wochenende mit dem 
FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle über die finanziellen 
Möglichkeiten der neuen Regierung angezettelt hat, nur 
Spiegelfechterei.
Grundsätzlichen Einfluss auf die Entscheidungen für das neue 
Regierungsbündnis hat der Streit nicht. Im Gegenteil: Selten zuvor 
hat sich eine Wählerschaft so sehr in die Hand einer Regierungschefin
gegeben wie bei der Bundestagswahl am 27. September. Selten zuvor 
auch war eine Regierungschefin so stark wie Angela Merkel, und das, 
obwohl sie ihrer Partei weniger Stimmen brachte als je ein Parteichef
vor ihr.
Woran liegt das?
Merkel hat das politische Zentrum der Republik verschoben. Und zwar -
zur Überraschung der alten Männer der SPD, die mit den Auswirkungen 
überfordert sind - nach links. Sie hat zugleich - ungeachtet des 
Unwohlseins der alten Männer der Union - mit alten konservativen 
Werten der Union aufgeräumt:
Die Rolle der Frau? Alles ist möglich, seit Ursula von der Leyen 
Erziehungs-, Familien- und Karrierewerte der Unionspolitik sozial und
demokratisch definiert.
Die Ausländer-Integration? Nie war die Union weiter vom konservativen
Wertegerüst einer deutschen Leitkultur entfernt.
Die Umweltpolitik? Die Kanzlerin reist nicht nur zu Eisbären. Sie 
domestiziert gerade auch den Atom-Konflikt, indem sie längere 
Laufzeiten mit der früheren Schließung von Atomkraftwerken 
konsensfähig macht.
Merkel präsentiert sich so pragmatisch-politisch als Stimme der 
deutschen Mitte, dass wenig Platz für Andere und für Streit bleibt:
Die SPD sucht nach den Ursachen ihrer Wahlniederlage, ohne den 
komplexen Angriff der Merkel-Union auf das politische System 
verstanden zu haben. Vor der Linkspartei muss dem Beobachter 
schaudern, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet der linke 
Weltenveränderer Oskar Lafontaine mit der Spaltung des 
sozialdemokratischen Lagers zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder für 
eine Stimmen-Mehrheit von Union und FDP gesorgt hat. Die Grünen 
taumeln zwischen Jamaica- und Ampel-Option, ohne die Bündnisfrage 
inhaltlich beantworten zu können.
Wenn nun also Christian Wulff auf die politische Bühne der 
Koalitionsverhandlungen tritt und einen Streit um die 
Steuersenkungspläne der FDP anzettelt, dann mag das der Versuch eines
veritablen CDU-Vize, dem viele auch das Amt der Parteichefs zutrauen,
sein, gegen den hegemonialen Anspruch der Kanzlerin aufzumucken. 
Tatsächlich aber verleiht Wulff Merkel nur einen der für ihre Macht 
so wichtigen Flügel: Von den Konflikten zwischen einer 
wertkonservativen Wirtschaftsflanke der Union und einem unerfahrenen 
Steuersenker und FDP-Chef wird die Kanzlerin immer weiter nach oben 
getragen. Sie ist heute die Mitte. Keine Spur mehr derzeit von der in
Rot, Rot, Grün gespaltenen politischen Gegnerschaft. Merkel macht 
sich auch das bisschen Opposition noch selbst. Das hat zuletzt in 
dieser Stärke nur Franz-Josef Strauß mit der CSU in Bayern vermocht.
Gut möglich, dass wir gerade einen Systemwechsel in der 
bundesdeutschen Verfassungsgeschichte erleben: Die Richtlinien der 
Politik bestimmt dann künftig die Kanzler-Präsidentin.

Pressekontakt:

Neue Westfälische
Jörg Rinne
Telefon: 0521 555 276
joerg.rinne@neue-westfaelische.de

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