Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Versagen aller Notfallpläne Hilflos SIGRUN MÜLLER-GERBES
Bielefeld (ots)
Viele Katastrophen sind in den vergangenen Jahren über die Welt hereingebrochen, stets ist die Hilfsmaschinerie routiniert angesprungen. Indonesien, Pakistan, Haiti: Immer wieder war das menschliche Leid unermesslich. Aber man wusste im Grunde auch immer, was zu tun war - schnell wurden Hilfslieferungen und medizinisches Gerät verpackt, Rettungs- und Bergungsteams zusammengestellt, große Spendensammlungen an den Start gebracht. Diesmal aber steht die Welt starr vor Schreck. Denn die dreifache - rechnet man den drohenden Crash des japanischen Finanzmarkts dazu, sogar vierfache - Katastrophe sprengt die bisherigen Routinen. Das Bild, das sich in Japan dieser Tage bietet, ist in keinem Notfallplan für den "Massenanfall von Verletzten" vorgesehen; niemand hat je durchgerechnet, wie sich Millionen von Menschen evakuieren lassen; kein Katastrophenschutz-Szenario beschreibt einen Weg, den atomaren Super-GAU inmitten eines dicht besiedelten Industrielandes unter Kontrolle zu halten. Japan zeigt, wie sehr der unbeirrbare Glaube an die Beherrschbarkeit von Natur an der Illusion hängt, im Ernstfall werde alles schon noch mit Hilfe technischer Handbücher in den Griff zu bekommen sein. "Man möchte es nicht zuende denken", beschreibt ein Helfer seine Hilflosigkeit angesichts der Frage, was zu tun ist, wenn der Großraum Tokio atomar verseucht würde. In Wahrheit kann man es nicht zuende denken. Natürlich stimmt auch diesmal, dass das japanische Volk all unsere Solidarität braucht in dieser Situation. Aber wie weit kann diese Solidarität tatsächlich helfen? Klar: Spenden für die gebeutelten Menschen in den zerstörten Regionen können beim Wideraufbau wichtige Unterstützung leisten. Aber zu wenig Geld ist in einem Industrieland wie Japan, das innerhalb von zwei Tagen 130 Milliarden Euro in die Stützung des Finanzmarkts pumpen kann, nicht das vordringlichste Problem. Dass das US-Militär beim Kühlen der berstenden Reaktoren in der Atomanlage Fukushima hilft, die Bundesregierung den Rat deutscher Atomexperten und Erdbebenforscher anbietet, die Europäische Union auf Bitten Japans wohl bald Decken, Matratzen und Wassertanks für die Krisenregion liefern wird: Alles unabdingbar. Aber es wirkt auch seltsam hilflos im Angesicht des Schreckens. Ein Schrecken, den übrigens nicht die Natur über uns gebracht hat, wie es das Wort "Naturkatastrophe" so bequem nahelegt. Mit Erdbeben und Riesenwelle alleine wäre Japan klar gekommen. Apokalyptisches Ausmaß nehmen die Folgen der erdgeschichtlich "normalen" Naturereignisse erst durch menschliches Zutun an. Dadurch, dass wir geglaubt haben, Natur ließe sich kühl kalkulieren und endlos ausbeuten. Die Kernschmelze in einem, zwei, drei, bald vielleicht sechs Reaktoren hat diesen Glauben endgültig als Irrweg entlarvt.
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