Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar Die Schwächen der großen Parteien Werte, Führung, Selbstverpflichtung THOMAS SEIM
Bielefeld (ots)
Es geht das Gespenst eines Bundeskanzlers um, der zum ersten Mal seit Bestehen der Republik nicht aus CDU oder SPD stammen könnte. Wenn man den Umfragen der Woche glauben darf, dann wird die Politik der Republik auf den Kopf gestellt. In Baden-Württemberg wird es den ersten grünen Ministerpräsidenten geben. In Berlin liegt die Spitzenkandidatin der Grünen, Renate Künast, vor dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). Bundesweit liegen die Grünen fünf Punkte vor der SPD und nur noch zwei hinter der CDU. Auch in NRW verliert die SPD sechs Punkte, die Grünen legen gleich viel zu. Nichts ist mehr, wie es war, seit der Atomkatastrophe von Japan. Ist Japan - und damit eine typisch deutsche Angst - der Grund für diese Zahlen? Oder öffnet Japan nur den Blick für die Schwäche unseres politischen Systems? Viele Indizien sprechen für die zweite Erklärung: 1. Werte-Verlust. Die Parteien, mit Ausnahme der Grünen, lassen nicht mehr hinreichend erkennen, wofür sie stehen. Union und SPD sind sich im Streit um Detail- und Machtfragen so ähnlich geworden, dass man das identitätsbildende Werte-Fundament kaum noch erkennt. Die SPD verschüttet ihre Tradition als Partei des Aufstiegs hinter den Grabenkämpfen um Hartz IV. Die Union übt den Atom-Kniefall vor den Stromkonzernen und erschreckt sich nun, dass sie weniger Wähler glaubhaft davon überzeugen kann, die Partei der christlichen Schöpfungsgeschichte zu sein. 2. Fehlendes Leadership. Führungen müssen Entscheidungen treffen und vertreten. Das erst macht sie zu respektablen Figuren der Politik. Wir erleben das Gegenteil: Eine Kanzlerin, die den Herbst der Entscheidungen angekündigt hatte, verabschiedet sich mit einer Handbewegung von der dort beschlossenen Verlängerung der Atomlaufzeiten. Der britische Ex-Premier Tony Blair definiert Führung als Entscheidung, aus der alle weiteren Schritte abgeleitet werden. Nur eines kann und darf solches Leadership nicht: zum Ausgangspunkt zurück. Das ist Führungsversagen. 3. Kein Commitment. Die etablierte politische Führung verpflichtet sich nicht mehr wie früher auf Grundsätze. Stattdessen wabert sie hin und her zwischen den Umfragewerten und den Befindlichkeiten der Bürger und Bürgerinnen. Das lässt die Menschen im Ungewissen über den Kurs von Regierungen und Parteien, wo sie Gewissheiten brauchen und suchen. Auch die Grünen sind an ihren Inhalten gescheitert, wie ihre Abwahl in Hamburg zeigt. Aber in der Wählerschaft, das zeigt das Beispiel Atompolitik, werden sie derzeit wahrgenommen als einzige werte-orientierte Alternative zur herrschenden Politik. Und zwar unabhängig davon, ob das stimmt oder nicht. Die Krise der politischen Klasse indes wird durch die Grünen allenfalls gemildert, nicht gelöst. Man sucht jene Führungsfiguren, die dazu die Kompetenz hätten, wie sie Adenauer, Brandt, Schmidt und wohl auch Kohl und Schröder hatten. Sie sind - derzeit - schwer zu finden.
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