Neue Westfälische (Bielefeld): 50. Jahrestag des Mauerbaus Mahnungen einer Ruine THOMAS SEIM
Bielefeld (ots)
Wenn heute die Fahnen in NRW auf Halbmast wehen und unsere Kinder "Warum eigentlich?" fragen - hätten wir es spontan gewusst? Würden wir uns ohne Hilfe an diesen Anachronismus des Mauerbaus erinnert haben, der heute vor 50 Jahren den meisten Menschen - auf beiden Seiten dieses angeblichen "antifaschistischen Schutzwalls" - das fassungslose Entsetzen ins Gesicht schrieb? Die Siebzigjährigen und Älteren bestimmt. Die Sechzigjährigen vermutlich. Die Fünzigjährigen vielleicht. Aber die Vierzig-, Dreißig- und Zwanzigjährigen brauchen ein paar Augenblicke länger, um die Besonderheit des Datums zu erkennnen. Dass dies so ist, hat nichts mit Geschichtslosigkeit zu tun. Es ist ein Ausdruck des demokratischen deutschen Lebensgefühls, das sich in einem freien Europa grenzenlos - sieht man ab von den auf Druck der Rechtsextremen wieder eingeführten Kontrollen an Dänemarks Staatsgrenzen - bewegen kann. Die Mauer, ein Schandmal für das Menschenrecht, ist für viele Bürger nur noch Vergangenheit. Und das ist auch gut so. Dass wir gleichwohl des 13. Augusts 1961 in Trauer gedenken, hat gute Gründe. Mehrere hundert Menschen sind danach an der innerdeutschen Grenze gestorben. Die Bilanz des Zentrums für Zeithistorische Forschung listet mindestens 136 Maueropfer, darunter 98 DDR-Flüchtlinge, 30 Personen aus Ost und West, die ohne Fluchtabsicht verunglückten oder erschossen wurden, und 8 im Dienst getötete Grenzsoldaten auf. Mittelbar ist die Zahl höher, weil 251 Menschen bei oder nach den Grenzkontrollen eines natürlichen Todes - hauptsächlich durch Herzinfarkt - starben. Ausgerechnet heute, zu diesem besonderen Jahrestag, leistet sich ausgerechnet die Linkspartei, die die Nachfolge der SED aus der DDR angetreten hat und sich bis heute in deren Tradition versteht, eine rechtfertigende Debatte über Gründe für den Mauerbau. Parteichefin Gesine Lötzsch nennt ihn eine Folge des Zweiten Weltkriegs. Die Ex-Generäle der DDR-Volksarmee, Fritz Streletz und Heinz Keßler, rechtfertigen die innerdeutsche Grenze in ihrem Buch "Ohne Mauer hätte es Krieg gegeben" gar als Friedenswerk. Ein Schlag ins Gesicht der an der Grenze ermordeten Bürger. Das darf man weder der Linkspartei noch den Epigonen des DDR-Militärs durchgehen lassen. Sie verklären Geschichte. Sie verneinen historische Schuld. Vor allem ihre eigene. "Das ist so die Geschichtssicht von geschichtslosen Menschen, die irgendetwas verdecken und verschleiern und beschönigen wollen und jeden Schuldigen in der Weltgeschichte suchen, aber den wichtigsten, den sie finden sollten, finden sie nicht, nämlich sich selbst", sagt Liedermacher Wolf Biermann, der 1976 als Kritiker der DDR von ihr ausgebürgert wurde. So ist es! Heute vor 50 Jahren wurde die Mauer gebaut. Daran erinnert die Halbmast-Beflaggung in NRW. Zu Recht. Die Mauer ist inzwischen gefallen. Man erwartet, dass aus diesen Ruinen nichts mehr aufersteht.
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