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Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Finanzkrise erschüttert den alten Kontinent Zeit für ein neues Europa THOMAS SEIM

Bielefeld (ots)

Fassungslos schauen wir in diesen Tagen auf die politische und finanzpolitische Entwicklung auf unserem guten alten Kontinent. Eine Hiobsbotschaft jagt die andere: Griechenland, das Mutterland der Demokratie, ist pleite. Italien unter der Führung eines charakterlichen Hallodris ist nahe dran. Portugal und Irland sind verzweifelt um eine Rettung ihrer einst so zugkräftigen Wirtschaft und der Euro-Währung bemüht. Großbritannien ist wie immer außen vor, aber in Wahrheit noch schlechter dran als der Rest Europas. Deutschland und Frankreich, die Mittelmächte Europas, drohen im Management des Chaos zu versinken. Nichts ist mehr gut in diesen Vereinigten Staaten der Europäischen Union. Aus Sorge vor einem Zusammenbruch der Währung und der Wirtschaftskraft sind wir inzwischen sogar so weit, dass wir das urdemokratische Element einer Volksabstimmung als unverantwortlich brandmarken. Selbst wenn man dies aus Rücksicht auf nicht weiter definierte Märk-te für zwingend halten muss: Wie tief ist das demokratische Element in Europa gesunken, dass es zu solchen Verwerfungen führt, wenn eine Regierung das Volk für die eigene Zukunft in Verantwortung nehmen will? Nur ein geeintes und gestärktes Europa indes wird sich und seine Kultur im weltweiten Wettbewerb behaupten können. Die Machtbalance unserer Welt hat sich bereits auf dramatische Weise in Richtung Osten verschoben. So weit ist es gekommen, dass China und Indien inzwischen Bedingungen formulieren, wenn sie sich in der Rettung der Euro-Währung und der Stabilität der europäischen Staaten engagieren sollen. Schlimmer noch: Der türkische Präsident Erdogan kann öffentlich erklären, sein Land sei stabiler und gesünder als eine Reihe von Mitgliedsländern der Europäischen Union. Und man wagt - in Gedanken an Rumänien und Bulgarien, aber auch an die desolate Finanzlage Griechenlands - kaum noch, ihm zu widersprechen. Dazu wächst die Sorge, dass die Türkei, je länger wir sie mit diffusen Hinweisen auf irgendeine Partnerschaft ohne EU-Mitgliedschaft vertrösten, irgendwann doch Gefallen darin finden könnte, sich dem Osten, Irak und Iran, zu- und von Europa abzuwenden, mit allen geostrategischen Risiken. Es wird höchste Zeit, dass sich Europa neu erfindet. Das heißt: ohne Tabus. Gemeinsame Wirtschaftspolitik - ja! Gemeinsame Finanzpolitik - ja! Gemeinsame Außenpolitik - ja! Alles vertreten durch einen europäischen Minister. Volles Haushaltsrecht, volle Gesetzgebung für das Europaparlament. Angst- und vorurteilsfreie Prüfung von Vollmitgliedschaften, auch für die Türkei. Oder gar Russland. Volksabstimmungen zu allen zentralen Identitätsfragen. Mag sein, dass dann die nationalen Parlamente nicht mehr viel zu sagen und zu entscheiden haben, von den Länderparlamenten zu schweigen. Mag sein, dass wir dazu viele innere Widerstände in uns selbst überwinden müssen. Aber die Wiedererfindung der europäischen Einigung ist eine Frage von Krieg und Frieden. Die Alternative lautet: starkes Europa in der Weltengemeinschaft oder deutsche/französische/italienische/britische Provinz im Überlebenskampf gegen die neuen Kolonialmächte Indien und China. Das alte Europa ist tot, es lebe das neue. Das ist die Alternative, die uns bleibt.

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