Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar Mitgliederentscheid Die SPD wagt Demokratie CARSTEN HEIL
Bielefeld (ots)
Endlich macht die SPD mal wieder positive Furore. Sie diskutiert bis in alle Ortsvereine hinein den Koalitionsvertrag, und die Mitglieder stimmen geradezu massenweise über die Regierungsvereinbarung ab. Sogar von einer Eintrittswelle ist die Rede, selbst wenn die vielleicht nur eine interessengeleitete Kampagne sein sollte. Und es ist der Parteiführung gelungen, dass in erster Linie sachlich argumentiert und vielleicht im besten Sinne gestritten wird. Erst ganz nach der Mitgliederabstimmung wurden gestern Abend die Ministerposten bekannt. Demokratie pur. Besser konnte es für den Vorsitzenden Sigmar Gabriel nicht laufen. Die SPD wagt Demokratie. Alle 474.820 Mitglieder konnten sich beteiligen, 1,6 Millionen Euro kostet die Partei das Projekt, Anfeindungen hat es auch gegeben. Wichtig ist die politische Anstrengung, das Denken und Argumentieren. Deshalb wird die SPD dabei gewinnen, selbst wenn das Ergebnis der Befragung anders ausfallen sollte, als es sich die Parteiführung wünscht. Wenn die Mehrheit der teilnehmenden Mitglieder den mit der Union ausgehandelten Koalitionsvertrag ablehnen sollte - wofür nicht sehr viel spricht -, wäre das ein Misstrauensvotum gegen die Parteispitze. "Ihr habt alles falsch gemacht" wäre die Botschaft der Basis. Auch das ist Demokratie. Gabriel und der Rest des Vorstandes müssten zurücktreten. Die Partei kann sich bei der Mitgliederbefragung auf Willy Brandt berufen als einen der großen Überväter der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert, der nächste Woche 100 Jahre alt geworden wäre. Wir wollen mehr Demokratie wagen, hatte der in seiner Regierungserklärung 1969 gesagt. Das Wagnis von Demokratie ist aber immer, dass Menschen scheitern können, abgelehnt werden, andere Vorstellungen sich durchsetzen oder dass nicht der ideale Kandidat gewählt wird. Die Grünen können ein Lied davon singen. Ihre Urwahl der Spitzenkandidaten vor der Bundestagswahl hat nicht dazu geführt, dass sie erfolgreich waren. Auch die SPD hatte bei Kandidatenwahlen schon Pech. 1994 hatte sich Rudolf Scharping im Ringen um die Spitzenkandidatur durchgesetzt und verlor gegen Helmut Kohl. Dazu kommt, dass plebiszitäre Elemente nicht immer wirklich basisdemokratisch sind. Wenn schon bei der Bundestagswahl nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen abstimmen, die unteren Schichten sind zum Beispiel deutlich unterrepräsentiert, ist das bei Parteien nicht anders. Es beteiligt sich bei der aktuellen Abstimmung der SPD nur ein extrem eingeschränktes Gesellschaftsprofil. Basisdemokratie macht also Furore, aber nicht unbedingt das beste Ergebnis und darf nicht als Wille des Volkes missinterpretiert werden. Interessengruppen bleiben Interessengruppen. Parteien sind nichts anderes als Interessengruppen. Gleichwohl hat der SPD-Vorsitzende Gabriel recht, wenn er erklärt, dass immerhin mehr Menschen beteiligt waren als bei der Union. Die hat schon ihr Wahlprogramm nicht breit diskutiert und nicht mal einem Parteitag vorgelegt. Genauso in kleiner Runde wurde nach der Wahl der Vertrag abgenickt. Der Erfolg der SPD, dass über sie gesprochen wurde, dass es Eintritte gab, dass sie Politik wieder auf den Marktplatz gebracht hat, wird dazu führen, dass auch andere Parteien folgen. Schon diskutiert die Union über Ähnliches. Es wird mehr Basisdemokratie geben in Deutschland, aber bessere Politikergebnisse werden nicht automatisch die Folge sein. carsten.heil@ ⋌ihr-kommentar.de ⋌Bericht Titelseite
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