Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar Auschwitz-Prozess in Lüneburg Zu spät Sigrun Müller-Gerbes
Bielefeld (ots)
70 lange Jahre hat die deutsche Justiz gebraucht, um das Selbstverständlichste zu formulieren: Bei Auschwitz durfte man nicht mitmachen. 70 Jahre, in denen deutsche Gerichte die Täter davonkommen ließen, weil sie angeblich bloß Mitläufer waren, kleine Rädchen ohne eigene Verantwortung, Befehlsempfänger ohne Entscheidungsspielraum. Wer die Schilderungen der Überlebenden vor Gericht liest, den erfüllt es noch nachträglich mit Scham: Sie alle haben jahrzehntelang ertragen müssen, dass die, die da an der Rampe von Auschwitz Dienst taten, die mithalfen, ihre Nächsten ins Gas zu schicken, nicht schuldig schienen im Sinne des Gesetzes. Ein Skandal. Aber auch eine große Erleichterung, dass sich die Justiz spät, allzu spät, eines Besseren besonnen hat. Es mag hilflos, ja lächerlich klingen, wenn Beihilfe zu 300.000-fachem Mord mit vier Jahren Gefängnis geahndet wird - und der Täter vermutlich nicht einen Tag davon absitzen muss, weil er zu alt und zu schwach ist. Aber auf das Strafmaß kommt es hier letztlich nicht an. Das Landgericht Lüneburg hat mit seinem Urteil klargemacht, dass die Schuld am Mittun in der Mordmaschinerie Auschwitz auch nach 70 Jahren nicht einfach abgetragen, verjährt, vergessen ist. Und es hat dafür gesorgt, dass den Opfern noch einmal, für viele wohl zum letzten Mal, eine Stimme verliehen wurde. Eine Stimme, die auch der jüngeren Generation vor Augen führt, wohin Mitläufertum führen kann.
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