Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Merkels Flüchtlingskurs verunsichert Parteifreunde Zeitenwende für die CDU Thomas Seim
Bielefeld (ots)
Vor einer Woche in Berlin sprachen zwei Kanzler über die Liebe. Angela Merkel, amtierende Bundeskanzlerin, präsentierte eine Biographie ihres emeritierten Vorgängers Gerhard Schröder. Merkel bezog sich auf Schröders Mutter, Schröder auf seine Frau Doris Schröder-Köpf. Beide gingen bei der Präsentation sehr pfleglich miteinander um. Man darf davon ausgehen, dass Angela Merkel schon da sehr genau analysiert hatte, dass sie sich mit der Bewältigung der Flüchtlingsbewegung nach Deutschland in einer ähnlichen Situation befindet wie Gerhard Schröder mit der Agenda 2010: Sie hat als richtig erkannt, was ihre Partei nur schwer akzeptieren und nur in Teilen als eigene Politik verstehen kann. Die Kanzlerin, der man lange Zeit nachsagen konnte und musste, dass sie kaum führt oder nur sehr zögerlich und aus den verschwiegenen Vertrautenkreisen um sich herum, hat ihr Identitätsthema als Staatsfrau mit bleibender historischer Wirkung erkannt. Es ist die Integration der Flüchtlinge in die Europäische Union - und in Deutschland. Merkel kommt hier aus der Tradition der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR. Sie will als Mitglied einer Bewegung, die die Mauer zum Einsturz brachte, nicht als Regierungschefin in die Geschichte eingehen, die neue Mauern baut. Sie will nicht Kanzlerin eines Landes sein, das Fremde wegen des Fremdseins ausgrenzt, das den Andrang von Flüchtlingen dadurch zu mindern versucht, dass man Flüchtlinge schlecht behandelt. Das gilt ganz ungeachtet der Frage, was Deutschland tatsächlich für Flüchtlinge leisten kann. So ein Verständnis von Land und Führung ist - das sieht man an lauter werdenden kritischen Stimmen in der CDU und fallenden Umfragewerten für Merkel - nicht automatisch mehrheitsfähig. Vor allem ist es für Merkels eigene Partei nur schwer verdaulich. Die Union, CDU wie CSU, hat es schwer in ihrer nationalen Identität im Umgang mit Migration und Ausländern. Das sieht man in den Debatten zum Einwanderungsgesetz ebenso wie im Umgang mit den Herausforderungen der Flüchtlingsbewegung. Die Partei ist seit je gespalten in die Anhänger der christlichen Tradition und die Konservativen, die aus der Betonung des Nationalen kommen. Die Flüchtlingsbewegung nach Deutschland forciert diese Spaltung. Und nicht alle in der Union haben einen ähnlich analytisch-klugen Blick auf die Lage wie die Physikerin im Kanzleramt: Sie kann die Welt nicht so konstruieren, wie ihre Partei es gern hätte. Das hat ihr Vorgänger Schröder auch so erlebt. Dessen Partei leidet bis heute an diesem Dilemma. Ähnlich wird es der CDU gehen. Entweder sie folgt Merkel mit dem Risiko, daran zu zerbrechen. Oder sie folgt ihr nicht, dann geht Merkels Kanzlerschaft zu Ende. So oder so eine Zeitenwende.
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