Neue Westfälische (Bielefeld): Aufstand in der Türkei Ein übler Verdacht Carsten Heil
Bielefeld (ots)
Der Aufstand von Teilen des Militärs in der Türkei war wohl eher ein Pütschlein als ein ernstzunehmender Putsch. Wie Amateure sind die Aufständischen vorgegangen. Sie haben sogar so dilettantisch gehandelt, dass ein übler Verdacht aufkommt: Die Ereignisse von Freitagnacht waren so untypisch für einen ernsten und gut geplanten Umsturz und so voller Ungereimtheiten, dass sie auch von der Erdogan-Regierung inszeniert sein könnten. Zumal solch ein Versuch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in die Hände spielt bei dem Ziel, seine Kritiker mundtot zu machen. Jetzt hat der zwar demokratisch gewählte, aber seit Jahren nicht mehr demokratisch handelnde Präsident freie Bahn, alle Kritiker auszuschalten. Es ist zu fürchten, dass er zumindest die Gelegenheit dazu nutzt, wenn er sie nicht sogar selbst herbeigeführt hat. Die türkische Armee hat in den vergangenen Jahrzehnten seit 1960 drei Mal ernstlich und erfolgreich geputscht. Dazu kommt 1997, als schon ein Machtwort des Generalstabs für den Rücktritt des damaligen Präsidenten Necmettin Erbakan reichte. Nein, diese zweitgrößte Armee der Nato hätte das Potenzial für einen erfolgreichen Putsch. Dazu kommen Fragen: Warum wusste die Regierung so schnell - noch in der Nacht - wer hinter dem Aufstand steckt? Hätte der Geheimdienst die Ereignisse bei so vielen angeblich vorliegenden Informationen nicht verhindern können? Bereits nachts um zwei Uhr, als der Putsch noch lief, verlas der Generalstaatsanwalt schon die Namen der angeblich Verantwortlichen. Warum konnte Staatspräsident Erdogan von seinem Urlaubsort am Mittelmeer nach Istanbul fliegen, obwohl die Putschisten den Luftraum abgeriegelt hatten? Der eigentliche Anhaltspunkt für den üblen Verdacht ist jedoch das Verhalten von Staat und Regierung in der Türkei nach den aufrührerischen Ereignissen. Schon Stunden später wurden rund 3.000 Richter und Staatsanwälte ohne Verfahren, ohne Anhörung ihrer Ämter enthoben. Da kommt der Verdacht auf, dass unliebsame Köpfe aussortiert werden. Knapp 3.000 Armeeangehörige wurden verhaftet. Staatspräsident Erdogan selbst spricht von "Säuberungen". Ein Wort, das historisch dermaßen belastet ist, dass für die Türkei Übelstes zu befürchten ist. Sein Regierungschef Binali Yildirim regt gar an, die Todesstrafe wieder einzuführen. Es ist das gute Recht eines demokratischen Rechtsstaates, sich gegen jede Art von Umsturz zu wehren. Doch Erdogan ist dabei, die Türkei zu einer Präsidialdiktatur umzubauen: Nur weil sie einen Aufruf für die Demokratie und freie Meinungsäußerung unterschrieben hatten, wurden Professoren und Intellektuelle aus ihren Ämtern gejagt. Journalisten dürfen nicht schreiben, was sie recherchiert haben. Viele internationale Reporter haben deshalb das Land schon verlassen, so auch der Korrespondent dieser Zeitung, weil die Arbeitsbedingungen nicht mehr zumutbar waren. Schon vor Monaten wurden Juristen entlassen, weil sie eine Korruptionsaffäre aufklären wollten, in die mutmaßlich Familienangehörige des Präsidenten verwickelt waren. Die Türkei scheint weit davon entfernt zu sein, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein, unabhängig davon, ob der Putsch inszeniert war. Die kommenden Wochen werden für die Türkei - und Europa - viel wichtiger als die Stunden des Umsturzversuches. Wie das Land und seine Institutionen mit der Situation umgehen, wird wie unter einem Vergrößerungsglas zeigen, wo es steht. Und das vor dem Hintergrund großer Bedrohung von außen beispielsweise durch den Terror des IS.
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