Neue Westfälische (Bielefeld): Bevorstehende Wahlen Die Stunde der Demokraten Marina Kormbaki, Berlin
Bielefeld (ots)
Zunehmende Politikverdrossenheit und schwindende Wahlbeteiligung galten noch bis vor Kurzem als Naturgesetze. Forscher und Politiker waren sich sicher: Wahlbeteiligungen von 90 Prozent wie in der Bundesrepublik der siebziger Jahre sind die historische Ausnahme. Danach ging es bergab, in den Gemeinden, den Ländern und im Bund. Abgesehen von vereinzelten Motivationsversuchen nahmen Politiker wie Bürger die schleichende Deformation der Demokratie achselzuckend hin. Doch jetzt schwingt das Pendel zurück. Die Menschen sind so politisiert wie lange nicht. Sie werden sich bewusst, dass Politik ihr Leben betrifft. Parteieintritte nehmen zu, hitzige Debatten sprengen Internetforen und Familientreffen. Für die morgige Wahl in Schleswig-Holstein rechnen Wahlforscher damit, dass die 60,2 Prozent vom letzten Mal übertroffen werden. Ein erfreulicher Trend, könnte man meinen, wenn sich nicht eine bange Frage aufdrängte: Stärkt die steigende Wahlbeteiligung die Demokratie tatsächlich? Brexit, Trump, Le Pen: Die jüngste Vergangenheit lässt Zweifel aufkommen. Von der steigenden Wahlbeteiligung profitierten bisher vor allem Rechtspopulisten. Das war in den USA, wo Trump erfolgreich um einstige Nichtwähler buhlte, nicht anders als in Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg, wo die AfD so viele Nichtwähler wie keine andere Partei mobilisierte. Das war 2016. Inzwischen hat der Trend einen Gegentrend ausgelöst. Aufgeschreckt durch die Erfolge der Populisten bemühen sich seriöse Parteien oder einzelne Politiker wie Emmanuel Macron in Frankreich um eine Politik, die das Gemeinwohl über Einzelinteressen zu stellen verspricht. Union und SPD überlassen heikle Themen wie soziale Ungleichheit, Immigration und Globalisierung nicht mehr den selbst ernannten Tabubrechern von rechts; mit Erfolg. Das Chaos auf internationaler Bühne hemmt die Experimentierfreude daheim. So kam die gestiegene Wahlbeteiligung kürzlich bei der saarländischen Landtagswahl den vermeintlichen Langweilern von der CDU zugute. Auch in Schleswig-Holstein dürften Parteien am Rande des Spektrums eine untergeordnete Rolle spielen. Die Berechenbarkeit von Politikern kann in unsicheren Zeiten mobilisierend wirken. Hoffentlich auch in Frankreich, wo sich noch immer viele fragen, ob ein absehbar wirtschaftsliberaler Präsident Macron das Schlimmste ist, was ihrem Land passieren kann.
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