Neue Westfälische (Bielefeld): Ehe für alle Streit belebt die Demokratie Marina Kormbaki, Berlin
Bielefeld (ots)
Die aufregendste Abstimmung hat sich die Große Koalition für das Ende dieser Legislaturperiode aufgespart. Gestern, am letzten Sitzungstag vor der Sommerpause, wurde es spannend im Bundestag. Das lag auch am Thema: Die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist eine gesellschaftspolitische Frage, die Menschen weit über den Kreis der Betroffenen hinaus bewegt. Vor allem aber lag die Spannung im ungewissen Ausgang der Abstimmung zur Ehe für alle begründet. Anders als bei fast jeder Abstimmung in den vergangenen knapp vier Jahren stand diesmal nicht fest, dass Union und SPD mit ihrer 80-Prozent-Stimmenmehrheit im Parlament ihre im Voraus ausverhandelte Position durchsetzen würden. Koalitions- und Fraktionszwang waren aufgehoben - mit der erfreulichen Folge, dass Leidenschaft in den Bundestag Einzug hielt. Die Debatte dauerte zwar nur 40 Minuten. Doch die von Überzeugungen geleiteten Reden der Abgeordneten aller Fraktionen zeigten auf, was Politik ausmacht: der respektvolle Streit um Positionen, das Ringen um Alternativen. Parteipolitische Auseinandersetzungen in wichtigen Fragen sind, anders als die Kanzlerin in dieser Woche behauptet hat, nichts Bedauernswertes. Dissens belebt die Demokratie. Von oben herab verfügter Konsens hingegen sediert sie. Nun kann man einwenden, dass die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren mit großkoalitionärem Konsens doch ganz gut gefahren sei. Krisen und Kuriositäten, wie sie zuletzt weite Teile des Globus erschüttert haben, machen um Deutschland ja tatsächlich einen Bogen. Gewiss trägt daran eine verlässliche, auf Ausgleich bedachte Bundesregierung eine Mitverantwortung. Und die Bürger danken es ihr: Unter dem Eindruck von Trump, Erdogan und Brexit sind die zwei Volksparteien erstarkt, nicht die Ränder. Ein Viertel der Bürger wünscht sich sogar die Fortsetzung der Großen Koalition. Absoluter Überdruss sieht anders aus. In einer Zeit, da Unvorhersehbarkeit die einzige Konstante im Weltenlauf zu sein scheint, ist Stabilität gewiss ein hohes Gut. Doch sie ist nicht der einzige Maßstab für die Lage der Demokratie. Diese verkümmert ohne Streit und Kontroversen. In Ansätzen lässt sich diese Tendenz schon heute beobachten: Dass so viele Bürger der Auffassung sind, sie dürften ihre Meinung nicht mehr frei äußern, dass sie "denen da oben" zutiefst misstrauen, ist auch eine Folge dessen, dass "die da oben" wenig streiten und wenig Alternativen anbieten. Die "Ehe für alle"-Debatte hat gezeigt, dass das politische Personal auch anders kann. Sie könnte als Beispiel dienen für die nächste Legislaturperiode. Wechselnde Mehrheiten lösen nicht gleich eine Staatskrise aus. Meinungsvielfalt und gelebte Streitkultur dürfen Demokraten keine Angst bereiten.
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