Neue Westfälische (Bielefeld): Wahlrechtsreform als Rettung der Demokratie Wer holt die Menschen wieder ins Boot? Gordon Repinski, Berlin
Bielefeld (ots)
Wer in diesen Tagen durch Berlin läuft, trifft oft Politiker mit düsterer Laune. Konservative klagen über den Aufstieg der AfD, obwohl es dem Land so gut gehe. Grüne sehen sich schlecht behandelt, weil mit Diesel-Krise und Klimaschutz wichtige Themen der Ökopartei helfen sollten, davon aber nichts zu spüren ist. Die Könige der Traurigkeit sind die Sozialdemokraten, die nicht verstehen, warum sie trotz makelloser Regierungsbilanz mit Umfragen bei 20 Prozent kämpfen müssen. Gut eine Woche vor der Wahl bietet die allgemeine Tristesse vor allem eine Erkenntnis: Das System der etablierten Parteien befindet sich in einer schweren Krise. Sie ist nur deshalb nicht existenziell, weil es der Wirtschaft noch immer so gut geht. Dass diese Krise des Parteiensystems in diesem Wahlkampf sichtbar wird, liegt auch an der Art der Auseinandersetzung. Kanzlerin Merkel übernehme sozialdemokratische Positionen und verhindere so Wettbewerb, klagen SPD-Politiker. Tatsächlich haben sich alle Parteien der Mitte angenähert. Die SPD versucht, sozial gerecht zu sein, ohne Steuern zu erhöhen. Die Grünen wollen die Umwelt retten, ohne dass jemand auf etwas verzichten muss. Selbst die FDP verzichtet weitgehend auf das Versprechen sinkender Steuern. Debatten finden nur noch in Detailfragen statt und sind für viele Bürger nicht greifbar. Wenn die Parteien trotz dieser Sucht nach Mittigkeit das Interesse an Politik wieder wecken wollen, müssen sie sich selbst infrage stellen. An der Öffnung des Systems führt kein Weg vorbei, zum Beispiel durch eine Wahlrechtsreform. Dass in der Bevölkerung der Wunsch nach Neuem vorhanden ist, zeigte der kurze Schulz-Hype. Für einige Wochen war der SPD-Mann derjenige, der alles aufmischt. In Deutschland leben zahlreiche Menschen, die diese Begeisterung in sich tragen. Die mitmachen wollen, sich aber vom status quo abgestoßen fühlen. Sie ins Boot zu holen, ist eine der zentralen Aufgaben der Parteien in den kommenden Jahren. Wenn es nicht gelingt, dann erleben wir in diesen Wochen erst den Anfang der Demokratie-Krise.
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