Neue Westfälische (Bielefeld): SPD in der politischen Hängepartie Hier Schulz - dort Realität Dieter Wonka, Berlin
Bielefeld (ots)
Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Für die SPD des Martin Schulz gilt dies offenkundig nicht. Wenn der Vorsitzende heute mit dem Bundespräsidenten zusammentrifft, wird Schulz einerseits behaupten, dass die Sozialdemokraten Neuwahlen nicht scheuen und andererseits wiederholen, dass seine Partei angesichts des Wahlergebnisses vom 24. September für eine Große Koalition nicht zur Verfügung steht. Doch weder das eine noch das andere besteht den Realitätscheck. Der im März mit 100 Prozent Zustimmung zum Retter auserkorene Schulz hat, um sich selbst zu retten, dem SPD-Vorstand diese Festlegungen abgetrotzt. Die Führung sagte einstimmig ja. Das war falsch und unrealistisch. Die SPD sollte wissen, dass sie ihr Nein zur Regierungsfrage nicht lange durchhalten kann. Und sie muss wissen, dass sie sich am allerwenigsten Neuwahlen leisten kann. Ihr fehlt vor allem ein überzeugender Spitzenkandidat. In der SPD-Bundestagsfraktion herrscht blankes Entsetzen über die Schulz-Linie. Hier ist man sich darüber im Klaren, dass den Sozialdemokraten in dieser historischen Stunde eine staatstragende Rolle zufällt. Ein Christian Lindner darf zocken. Ein Cem Özdemir kann scharf aufs Amt sein. Ein Seehofer will es sich leisten, den Kampf gegen Söder wichtiger als alles andere zu nehmen. Und die Kanzlerin kann weiter kühl ihre Machtoptionen sortieren. Die SPD mit ihrer Geschichte als konstitutive Kraft der deutschen Demokratie kann es sich nicht leisten, vor der Verantwortung davonzulaufen. Diese Haltung, gepaart mit mangelnder Professionalität, hat die Partei inzwischen auf 20 Prozent schrumpfen lassen. Vorsitzende wurden gewechselt wie andernorts die Wäsche. Schulz hat zurzeit das Glück, dass viele noch davor zurückschrecken, schon wieder einen Vorsitzenden zu kippen. Doch immer mehr Genossen hoffen, dass der einstige Hoffnungsträger selbst die Hoffnungslosigkeit seiner Lage erkennt. Dabei könnte eine selbstbewusste SPD gerade jetzt der Union ein Höchstmaß an Entgegenkommen abtrotzen. Aber was will die SPD? Klar: den Abschied von Angela Merkel. Aber dann? Rente? Bürgerversicherung? Steuern? Familie? Bildung? Mobilität? Partizipation? Die SPD des Jahres 2017 ist nur schwer identifizierbar. Die Partei muss verändern wollen, sonst wird sie überflüssig. Also sollte Schulz die Diskussion für ein knackiges Regierungsprogramm freigeben. Die Frage, welche Führungspersönlichkeit zu einer erneuerten SPD passt, muss anschließend geklärt werden.
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