Neue Westfälische (Bielefeld): Deniz Yücel aus der Haft entlassen Erleichtert und ernüchtert Susanne Güsten, Istanbul
Bielefeld (ots)
Die Freilassung von Deniz Yücel nach gut einem Jahr Haft ist eine große Freude und Erleichterung für den Reporter und seine Familie - die Entscheidung der türkischen Gerichte enthält aber auch einige ernüchternde Wahrheiten, die den Wandel in den deutsch-türkischen Beziehungen verdeutlichen. Zuallererst fällt auf, dass die türkische Justiz nur einen Tag, nachdem Premier Yildirim bei seinem Deutschland-Besuch die Hoffnung auf die baldige Vorlage der Anklage gegen Yücel zum Ausdruck brachte, genau diese produziert. Und obwohl darin 18 Jahre Haft für Yücel gefordert werden, ordnet das Gericht sofort die Freilassung an. Während Yücel freikam, wurden sechs türkische Journalisten in Istanbul zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Von einer unabhängigen türkischen Justiz kann also keine Rede sein. Das muss in Zukunft beim Umgang mit der Türkei einkalkuliert werden: Willkür wird zum politischen Faktor. Im Fall Yücel hat die türkische Regierung zudem gezeigt, dass sie für politischen und wirtschaftlichen Druck von außen empfänglich ist. Die Türkei ist außenpolitisch isoliert, hat sich mit den USA zerstritten und braucht dringend Partner. Die türkische Wirtschaft steht vor großen Problemen. Da steht die Bundesrepublik als mögliche Helferin weit vorn. Deutschland hat seine starke wirtschaftliche Stellung genutzt, um Yücel freizubekommen: Berlin hat Exportgarantien für Türkei-Geschäfte begrenzt, blockiert in der EU den Ausbau der Zollunion und lehnt den visafreien Reiseverkehr zwischen Europa und der Türkei ab. Kanzlerin Merkel betont, dass eine Freilassung von Yücel allein nicht ausreichen wird, um der Türkei politische Fortschritte in Europa zu sichern. Laut Berlin hat es keinerlei konkrete Gegenleistungen - etwa Rüstungsdeals - für Yücels Freilassung gegeben. Ob das stimmt, wird sich zeigen. Denn die türkische Regierung kommt wegen des Falles innenpolitisch unter Druck: Sie lasse Yücel laufen, obwohl Staatspräsident Erdogan persönlich den Reporter einen feindlichen Agenten genannt hat. Ankara hat deshalb ein Interesse daran, die Freilassung als Teil eines Deals mit den Deutschen hinzustellen. Wenn es Zugeständnisse aus Berlin gab, wird die türkische Regierung diese auch präsentieren. Klar ist aber schon jetzt, dass die Lösung der Yücel-Krise keine Rückkehr zu normalen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei signalisiert: Das Verhältnis ist von Druck und Gegendruck bestimmt und davon, wer gerade am längeren Hebel sitzt.
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