3. Internationales DEKRA Symposium in Neumünster: Lkw-Knautschzone kann Leben retten
Neumünster (ots)
Unfallforscher: Sicherheitspotenziale am Lkw längst nicht ausgeschöpft
- ÜBERBLICK -
Mit Energie absorbierenden Knautschzonen an Lkw lassen sich in der Europäischen Union die Folgen von jährlich 20.000 schweren bis tödlichen Unfällen vermindern. Darauf wiesen Unfallforscher beim 3. DEKRA Symposium 'Passive Sicherheit des Nutzfahrzeuges' in Neumünster (Schleswig-Holstein) hin. Der Frontunterfahrschutz verbessert bei Unfällen den Schutz von Pkw-Insassen, so dass sie Frontalkollisionen von Pkw und Lkw mit bis zu 65 km/h Differenzgeschwindigkeit ohne schwerwiegende Verletzungen überstehen. Das Sicherheitssystem hat seine hohe Schutzwirkung unter anderem bei Crashversuchen im DEKRA Crashzentrum Neumünster nachgewiesen. Für die aktuellen Lkw-Modelle der europäischen Hersteller sind solche Systeme in starrer oder Energie aufnehmender Bauweise bereits verfügbar.
Weitere 12.000 Menschen in der EU könnten vor schweren oder tödlichen Verletzungen bewahrt werden, würde man die Lkw-Front um eine zusätzliche Knautschzone von 60 Zentimetern verlängern. Pkw-Insassen könnten dann eine frontale Pkw-Lkw-Kollision mit bis zu 90 km/h Differenzgeschwindigkeit überleben. Scania hat einen Prototypen der Aufprallzone entwickelt. Sein Manko: Der Lkw wird um 350 Kilogramm schwerer und die Ladefläche verkürzt. Damit sinkt die Transportkapazität - ein Nachteil für sicherheitsbewusste Spediteure. Die Forscher fordern daher, die Vorschriften für Lkw-Maße und Gewichte für Fahrzeuge mit Knautschzone zu modifizieren.
Auch an der Verbesserung des Unterfahrschutzes am Heck wird gearbeitet. Studien zufolge muss dessen Festigkeit erhöht und sein Bodenabstand verringert werden.
Die heutigen starren Lkw-Fronten mit kleinen Kontaktflächen bergen beim Unfall für Fußgänger ein hohes Verletzungsrisiko. Besser wären glatte, flexible Oberflächen, die sich wie die Motorhaube eines Pkw beim Aufprall verformen, sagte Professor Jan Kovanda von der Technischen Universität Prag.
Schwere Lkw über 7,5 Tonnen sind relativ selten an Verkehrsunfällen mit Verletztem beteiligt. 2001 lag ihr Anteil in Deutschland bei 2,2 Prozent (15.827), erläuterte Walter Niewöhner von der DEKRA Unfallforschung. Die Unfallfolgen aber sind relativ schwer. 2001 wurden dabei 650 Menschen tödlich und rund 3.800 schwer verletzt. Mehr als jeder zweite tödliche Unfall war eine Kollision zwischen Pkw und Lkw. Das Weißbuch der EU zur Verkehrspolitik hat als Ziel formuliert, die Zahl der Verkehrstoten bis 2010 zu halbieren. "Wir wollen helfen, die ehrgeizigen Ziel der Europäischen Kommission zu erreichen", sagte Klemens Große-Vehne, Vorstand der DEKRA AG. "Die Sicherheitspotenziale sind noch längst nicht ausgeschöpft."
Europäische Datenbank für Lkw-Unfälle gefordert
Laut Professor Klaus Langwieder vom Institut für Fahrzeugtechnik in München könnten elektronische Stabilitätsprogramme mit Kippstabilisation für Lkw die Zahl schwerer Unfälle um bis zu neun Prozent verringern. Dringend sei auch der Aufbau einer europäischen Datenbank für Lkw-Unfälle und die beschleunigte Umsetzung technischer Lösungen in der Praxis.
Kouhei Akiyama von Hino Motors in Japan sieht Chancen in elektronischen Systemen zur Spurführung und automatischen Tempoanpassung. Martin Kugele von DEKRA wies auf neue Methoden der Ladungssicherung und deren Erprobung in Fahrtests hin. Aufgrund zahlreicher Unfälle bei schlechter Sicht empfahl der ungarische Experte Dr. Gyula K_falvi verbesserte Heck- und Seitenmarkierungen an Lastzügen. Da sich die von ihm untersuchten Lkw-Unfälle drei Stunden nach Abfahrt häuften, müsse die Disposition mehr auf gut vorbereitete und ausgeruhte Fahrer setzen. Die Zahl der frontalen Pkw-Lkw-Unfälle lässt sich laut Claes Avedal von Volvo, der einen Überblick zur Unfallsituation mit schweren Lkw in Skandinavien gab, durch die Trennung von Fahrbahnen mit Schutzplanken verringern.
Drei von zehn Verunglückten bei Lkw-Unfällen sind Insassen von Lkw. Deshalb stellten die Experten auch die Sicherheit der Lkw-Fahrer und -Beifahrer auf den Prüfstand. Die Unfallsicherheit in der Fahrerkabine lässt sich laut Nobuyoshi Ishibai von Hino Motors (Japan) durch optimierte Bodenstrukturen, Energie schluckende Lenkräder und zusammenschiebbare Lenksäulen erhöhen. Erste Priorität besitzt aber das Anlegen des Sicherheitsgurts durch die Lkw-Fahrer. "Wie Studien zeigen, kann der Gurt den Lkw-Insassen in acht von zehn schweren Unfällen wirkungsvoll schützen, aber nur jeder zehnte Fahrer in schweren Lkw nutzt ihn", erklärte F. Alexander Berg, Leiter der DEKRA Unfallforschung. Eine kürzlich gestartete Kampagne des DVR will die Vorbehalte der Brummifahrer gegen den Gurt abbauen. Berg forderte, die Aktion auf Europa auszuweiten.
Vor allem bei Auffahr- und Frontalunfällen erleiden Lkw-Insassen trotz hoher Sitzposition häufig schwere Verletzungen an Beinen, Bauch und Brust, zeigen Studien von Dr. Rainer Zinser an der Unfallklinik Ludwigshafen. Obwohl kurze Rettungszeiten in diesen Fällen extrem wichtig sind, erreichten Verletzte teilweise erst nach zwei Stunden die Klinik. Als Gründe nannte er Defizite bei Feuerwehren, Rettungsdienst und Notärzten, z.B. unzureichende Technikkenntnisse, Unsicherheiten und mangelnde Absprache. In Ludwigshafen wurden inzwischen die Rettungskonzepte überarbeitet und bundesweit 400 Rettungskräfte geschult.
Handlungsbedarf besteht auch auf politischer Ebene. "Die gültigen Richtlinien zur Konstruktion von Lkw-Fahrerhäusern können keinen Beitrag mehr zur Verbesserung der Fahrerhäuser leisten, sondern erschweren sogar deren Weiterentwicklung", betonte Lars Riebeck von der MAN Nutzfahrzeuge AG. Um eine Wirkung in der Unfallbilanz zu erzielen, seien neue Regelungen notwendig, die sich stärker am realen Unfallgeschehen orientieren. Ein Crash gegen eine Pritschenattrappe könne den Pendelschlagtest nach ECE-Richtlinie 29 ersetzen. Das bestätigen auch Crashtests des Japanischen Automobilhersteller Verbandes (JAMA). Aus Kostengründen müssten Gesetzgeber und Prüfstellen aber auch die Crashsimulation mit numerischen Modellen, die anhand real durchgeführter Crashtests hinreichend validiert wurden, als gleichwertige Methode anerkennen.
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