Herfried Münkler: Die Gereiztheit in der Gesellschaft nimmt zu
Politologe rechnet auf viele Jahre hinaus mit einem "Corona-Regime"
Berlin (ots)
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler betont in einem Gespräch mit der "Heilbronner Stimme" (Dienstag), dass Freiheit und Sicherheit in einem wohlgeordneten Staat kein Widerspruch sein müssen. Auf Seiten der Regierung sieht er eine "Fülle von Fehleinschätzungen". Zugleich sei bei den Bürgerinnen und Bürgern eine "zunehmende Sehnsucht" nach einem intakten Draußen erkennbar. Er bezeichnet den Coronavirus-Ausbruch nicht als Jahrhundert-Pandemie. Vielmehr habe mit Covid-19 "ein Jahrhundert der Pandemien begonnen".
Der Politologe sagte im Interview mit Blick auf den 11. März 2020, als die WHO den Virus-Ausbruch zur Pandemie erklärte: "Am Anfang herrschte eine Stimmung, die uns in eine Falle geführt hat. Man sagte, das Danach wird so sein wie das Davor. Es war ein großer Trugschluss. Wir müssen davon ausgehen, dass wir auf viele Jahre hinaus ein Corona-Regime haben werden."
Zu Veränderungen im Zuge der Pandemie sagte Münkler: "Ich glaube, dass die Wertschätzung des Hinausgehens in die Natur als Folge dieser Corona-Krise weiter zunehmen wird. Es gibt erkennbar eine zunehmende Sehnsucht nach Draußen. Vielleicht wird sich mit diesem Hinausgehen auch unser genereller Zugang zur Natur verändern. Rausgehen ist für viele Menschen ein Augenblick, in dem sie das Gefühl der Freiheit empfinden. In mancher Sicht offenbart sich hier etwas, was schon die Romantiker des frühen 19. Jahrhunderts in Gedichtform gefasst haben."
Kritik äußerte der Politologe am Umgang der Regierenden mit der Krise. Münkler: "Ein wohlgeordneter Staat zeichnet sich dadurch aus, dass Freiheit und Sicherheit keinen Gegensatz bedeuten müssen. Ärgerlich ist, wenn man den Eindruck bekommt, dass Einschränkungen der Freiheit durch ungeschicktes Handeln befördert werden. Wenn wir nun aber auf die vergangenen Monate schauen, dann ist doch festzustellen: Ein Fülle von Fehleinschätzungen der Regierung und das Ungeschick bei der Impfstoff- und Schnelltestbeschaffung zeigen uns, wo die Probleme des Landes liegen - nämlich im administrativen Bereich. Hier müssen wir Abläufe dringend überprüfen. Krisen legen Schwächen und Verwundbarkeiten offen, und wir können daraus lernen."
Münkler sorgt sich um den Zusammenhalt: "Die Gereiztheit in der Gesellschaft nimmt zweifellos zu. Dennoch gehören etwa die Populisten nicht zu den Gewinnern dieser Krise, was zu befürchten war. Aber sie haben sich mit Pandemieleugnern eingelassen. Damit haben sie insbesondere ältere Menschen und Risikogruppen verschreckt. Der mangelnde Respekt vor den Bedürfnissen von Mitmenschen ist sehr offensichtlich geworden. Er fürchte, dass mit den "seelischen Tumulten, die sich allenthalben abgespielt haben, bei manchem eher das Gegenteil von Resilienz eintritt, nämlich eine notorische Gereiztheit. Genau auf diese steuern wir gerade zu und müssen das ernst nehmen". Zu Hass und Hetze im Internet sagte Münkler: "Die Pöbeleien darf man nicht verharmlosen, sie gehen schließlich bis zu Gewaltbereitschaft. Leute, die in einer Präsenzveranstaltung den Mund nicht aufbekommen, sind oft die Netztäter. Sie sitzen an ihrem PC und denken, sie könnten unbeobachtet einmal richtig die Sau rauslassen. Wir beobachten hier einen Exzess der Feigheit."
Zur historischen Einordnung der Krise sagte der Politologe: "Wir müssen davon ausgehen, dass mit Corona ein Jahrhundert der Pandemien begonnen hat. Covid-19 ist vermutlich nur ein Vorbote weiterer Viren."
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Hans-Jürgen Deglow
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