Jeder Vierte wird im Laufe des Arbeitslebens berufsunfähig
"Report Mainz", heute, 24. November 2015, um 21.45 Uhr im Ersten
Mainz (ots)
Experten und Verbraucherschützer fordern im ARD-Politikmagazin "Report Mainz", die soziale Absicherung gegen Berufsunfähigkeit müsse wieder eine gesetzliche Leistung werden. Der Berliner Wirtschaftsrechtler Professor Hans-Peter Schwintowski sagte dem ARD-Magazin: "Die private Berufsunfähigkeitsversicherung funktioniert nicht!" Von einer sozialen Absicherung könne nicht die Rede sein: "Viele bekommen überhaupt keine Versicherung oder müssen exorbitante Prämien zahlen, können sich das nicht leisten. Und viele, die es sich geleistet haben, werden im Schadensfall abgelehnt."
Auch der Vorstand der Verbraucherzentrale NRW, Wolfgang Schuldzinski, sieht den Gesetzgeber gefordert: "Das Modell der privaten Absicherung ist gescheitert", so Schuldzinski gegenüber "Report Mainz". "Die Verlierer sind diejenigen, die die soziale Absicherung am meisten brauchen." Immer mehr Menschen drohten durch mangelhafte soziale Absicherung gegen das Risiko Berufsunfähigkeit in Armut und Altersarmut zu fallen, so die Einschätzung aller Experten.
Tatsächlich wird nach Angaben des Bundesverbandes der Versicherungsberater (BVVB) zwar jeder vierte Arbeitnehmer im Laufe seines Berufslebens einmal berufsunfähig. Aber nicht mal die Hälfte der Arbeitnehmer hat eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Die gesetzliche Absicherung gegen Berufsunfähigkeit durch die Rentenversicherung wurde 2001 vom damaligen Arbeitsminister Walter Riester (SPD) zur Entlastung der Rentenkassen gestrichen. Dies sei, so Professor Schwintowski von der Humboldt Universität in Berlin, ein "Verfassungsbruch" gewesen, der dringend korrigiert werden müsse: "Berufsunfähigkeit ist ein typisches Risiko, das uns allen droht, das zur Sozialversicherung gehört".
Die Verbraucherzentrale NRW hat ihre Beratungsgespräche ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis, dass für 40 Prozent aller Ratsuchenden keine vernünftige Versicherung zu finden ist. Menschen in Risikoberufen hätten die größten Probleme, so Wolfgang Schuldzinski: "Wir reden hier nicht vom Kampfmittelräumdienst, wir reden von der einfachen Krankenschwester."
Arbeitnehmer, die schwerer körperlicher Tätigkeit nachgehen, wie Maurer, Dachdecker oder Krankenpfleger, finden danach entweder gar keine Versicherung oder müssten Prämien zahlen, die für sie unbezahlbar sind. "Die Versicherungswirtschaft grenzt systematisch bestimmte Berufsgruppen und schon vorerkrankte Menschen aus", so Wolfgang Schuldzinski gegenüber "Report Mainz". Schon eine Allergie, eine Knieverletzung beim Fußball oder eine Behandlung wegen Prüfungsangst, und die Versicherungen würden auch junge Menschen von der Absicherung ausschließen.
Auch der Präsident des Verbandes der freien Versicherungsberater, Stefan Albers, sieht dringenden politischen Handlungsbedarf: "Letztendlich ist die private Berufsunfähigkeitsversicherung ein Geschenk an die Versicherungswirtschaft, bei der sie selektiv die versichert, die sie haben möchte." Der Gesetzgeber müsse dringend handeln, damit nicht weite Bevölkerungskreise in Altersarmut fallen. Nach Schätzungen der Experten würden nur 70 Prozent aller Arbeitnehmer, die eine Leistung wegen Berufsunfähigkeit beantragen, tatsächlich auch Leistungen von den Versicherungen bekommen.
Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) wollte auf Anfrage von "Report Mainz" zu dem Thema kein Interview geben. Sie ließ lediglich mitteilen, dass eine Änderung "nicht beabsichtigt" sei und verwies auf den für Verbraucherschutz zuständigen Minister Heiko Maas (SPD). Der wiederum räumte "Report Mainz" gegenüber zwar ein, dass gewisse Probleme "bekannt" seien, es aber "keine Pläne" gebe, etwas zu ändern, und verwies schließlich wieder zurück an die für Rentenfragen zuständige Ministerin Andrea Nahles.
Genauere Zahlen zu den Fragen, wie viele Menschen keine Versicherung bekommen können und wie viele Menschen in Armut fallen, weil sie keine Berufsunfähigkeitsversicherungen haben, oder diese im Schadensfalle nicht zahlt, waren auf Anfrage weder von den genannten Ministerien, der Deutschen Rentenversicherung, der Bundesagentur für Arbeit noch dem Gesamtverband der Versicherungswirtschaft zu erhalten. Offenkundig werden diese seit 2001 nirgends erhoben.
Die Bundesregierung hatte vor zwei Jahren versucht nachzubessern und eine staatliche Förderung für Berufsunfähigkeitsversicherungen beschlossen, wenn die Versicherungen bestimmte Bedingungen einhalten. Doch gibt es keine einzige Versicherung, die ein solches Produkt auch anbietet. Dieses erklärte der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft auf Anfrage von "Report Mainz".
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