CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Koschyk/Lamers/Nooke/Reiche/Schmidt: Deutsche, Tschechen und Polen müssen Konsens über gemeinsame Geschichte finden
Berlin (ots)
Zur Plenardebatte am 9. Juni 2000 zum Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion "Versöhnung durch Ächtung von Vertreibung" (BT-Drs. 14/1311) erklären der vertriebenenpolische Sprecher, Hartmut Koschyk MdB, der außenpolitische Sprecher, Karl Lamers MdB, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Günter Nooke MdB, die stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgruppe Angelegenheiten der Neuen Länder, Katherina Reiche MdB und der außenpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe, Christian Schmidt MdB:
Polen, Tschechen und Deutsche werden bald gemeinsam für eine "immer engere Union der Völker"- wie es der Maastrichter Vertrag ausdrückt - in der Europäischen Union arbeiten. Sich gemeinsam der Zukunft zuzuwenden, verlangt aber auch, sich gemeinsam der Vergangenheit zu stellen. Eine erfolgreiche gemeinsame Zukunft in Europa bedarf eines breiten Grundkonsenses über die Wertvorstellungen und die gemeinsame Geschichte, d.h. auch über das begangene Unrecht. Deshalb sind wir davon überzeugt, dass Polen, Tschechen und Deutsche die Pflicht haben, miteinander und damit auch mit sich selbst ins Reine zu kommen, um das große Zukunftsprojekt Europa zusammen mit den anderen Partnern gestalten und weiter vorantreiben zu können.
In diesem Sinne bitten wir unsere beiden östlichen Nachbarn, die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit uns Deutschen gemeinsam im Dialog zu führen und die Vertriebenen als die auf deutscher Seite am schwersten unmittelbar Betroffenen daran zu beteiligen.
Deutschland hat während des zweiten Weltkriegs und dem Holocaust unermessliches Leid über Millionen von Menschen gebracht. Im Zusammenhang mit den Ereignissen und Folgen des Zweiten Weltkrieges haben auch Deutsche viel Leid ertragen. Dieses festzustellen bedeutet nicht, eine Schuld mit einer anderen gleichzusetzen oder womöglich erstere zu relativieren. Von Deutschen zugefügtes Leid darf aber den Blick nicht davor versperren, dass in der Zeit ab 1945 rund 15 Millionen Deutsche ihre Heimat in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa unter Zwang vertrieben worden sind. Mehr als 2 Millionen Deutsche verloren bei Flucht und Vertreibung ihr Leben.
Unser Anliegen mit dem Antrag "Versöhnung durch Ächtung von Vertreibung" (BT-Drs. 14/1311) ist keine restitutio in integrum für die Vertriebenen. Sie kann es in einem solchen Fall millionenfacher Vertreibung nicht geben. Vielmehr geht es um die Anerkennung der Vertreibung als Unrecht. Diesen ihren Charakter mit unhaltbaren, völkerrechtlich zweifelhaften Konstruktionen zu leugnen oder gar als "gerechte Vergeltung", wie im tschechischen Amnestiegesetz vom 8. Mai 1946 zu bezeichnen, ist mit dem europäischen Rechtsverständnis und den ihr zugrundeliegenden Werten unvereinbar und wird dennoch weiterhin angewandt. "Gerechte Vergeltung" aber ist ein Widerspruch in sich.
Gleiches gilt auch für andere Benesch-Dekrete. Der tschechische Ministerpräsident Zeman hatte im März 1999 in Bonn zwar erklärt, dass "die Wirksamkeit einiger Maßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die Dekrete des Präsidenten in der Tschechoslowakei, erloschen ist." So unklar die Konsequenzen dieser Formulierung blieben, so klar stellte im November 1999 der tschechische Verfassungsrichter Antonin Prochazka dagegen fest, die Dekrete seien "weiter gültig und Teil der tschechischen Rechtsordnung." Er selbst entscheide heute noch auf der Grundlage fortgeltender Benesch-Dekrete über Recht oder Unrecht in Restitutionsangelegenheiten. (Vgl. Die Welt v. 10.11.99)
In Polen stellt sich die Frage diskriminierender Regelungen aktuell im Hinblick auf das Reprivatisierungsgesetz, mit dem die unter kommunistischer Herrschaft zwischen 1944 und 1962 erfolgten Enteignungen teilweise rückgängig gemacht werden sollen. Aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten sind demnach ausgeschlossen "Personen, die zum Zeitpunkt der Enteignung nicht die polnische Staatsbürgerschaft besaßen oder die polnische Staatsbürgerschaft nach Maßgabe des Dekrets vom 13.09.1946 über den Ausschluss von Personen deutscher Volkszugehörigkeit aus der polnischen Gesellschaft verloren haben." (Antwort der Bundesregierung auf Frage des Abg. Hartmut Koschyk in der Fragestunde am 27. Oktober 1999, Plenarprotokoll 14/62, S. 5562)"
Allerdings sind in Polen und Tschechien auf höchster politischer Ebene und in Teilen der Bevölkerung die Bereitschaft zu erkennen, sich auch den schwierigen Kapiteln der eigenen Geschichte ehrlich zu stellen. Die klare Anerkennung der Vertreibung als Unrecht und die unzweideutige Außerkraftsetzung entgegenstehender gesetzlicher Regelungen wäre die mit Abstand wichtigste zeichenhafte Wiedergutmachung. Alle anderen Fragen ließen sich dann nach unserer Überzeugung leichter lösen.
In diesem Sinne hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Antrag "Versöhnung durch Ächtung von Vertreibung" dem Deutschen Bundestag zur Beschlussfassung unterbreitet. Der Antrag nimmt Bezug auf die Entschließung des Europäischen Parlamentes vom 15. April 1999 zum regelmäßigen Bericht der Europäischen Kommission über die Fortschritte der Tschechischen Republik auf dem Weg zum Beitritt zur EU sowie auf die Resolution des Österreichischen Nationalrates vom 19. Mai 1999. Das Europäische Parlament hat mit seiner Entschließung die tschechische Regierung fraktionsübergreifend u.a. aufgefordert, "im Geiste gleichlautender versöhnlicher Erklärungen von Staatspräsident Havel (...), fortbestehende Gesetze und Dekrete aus dem Jahre 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen". Der Österreichische Nationalrat hat mit den Stimmen von SPÖ und ÖVP eine Resolution in gleichem Geiste verabschiedet, mit der die österreichische Regierung u.a. ersucht wird, im Verbund mit den anderen EU-Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen auf die Aufhebung von fortbestehenden Gesetzen und Dekreten, "die sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen Tschechoslowakei und dem ehemaligen Jugoslawien beziehen, hinzuwirken" Unser Antrag begrüßt beide Entschließungen und fordert die Bundesregierung auf, im Sinne dieser Beschlüsse selbst und im Verbund mit den anderen Mitgliedstaaten sowie den Institutionen der Europäischen Union gegenüber betreffenden Staaten tätig zu werden.
Weil fortbestehende Gesetze und Dekrete, sofern sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen beziehen, nicht mit dem Rechts- und Menschenrechtsstandard innerhalb der Europäischen Union vereinbar sind, halten wir es für erforderlich, das Thema der fortgeltenden Vertreibungsdekrete zu einem Zeitpunkt offen anzusprechen, an dem konkrete Vorbereitungen für die Aufnahme der betreffenden Staaten in die Rechts- und Wertegemeinschaft Europäische Union unternommen werden.
Unser Appell an Polen und Tschechen ist allerdings keine Bedingung für unsere Zustimmung zu ihrer Aufnahme in die Europäische Union, wohl aber eine für das innere Zusammenwachsen der Völker Europas, d.h. für ihre "immer engere Union".
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