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WDR/SZ-Recherche: Brüchige Reaktoren? Notkühlwasser wird in 18 europäischen Atomkraftwerken vorgeheizt

Köln (ots)

In zahlreichen Atomkraftwerken in Europa beeinträchtigen übermäßige 
Alterung und Materialfehler offenbar die Stabilität der 
Reaktordruckbehälter. Dafür spricht, dass nach Recherchen von WDR und
Süddeutscher Zeitung in mindestens 18 aktiven Atomreaktoren in 
Tschechien, Belgien, Frankreich, Finnland und der Slowakei das 
Notkühlwasser auf bis zu 60 Grad Celsius vorgeheizt wird. Dadurch 
soll offenbar das Risiko verringert werden, dass der stählerne 
Reaktordruckbehälter reißt, wenn er bei einem Störfall mit zu kaltem 
Wasser gekühlt wird. Die Folge eines solchen Bruchs kann eine 
Kernschmelze sein.

"Je länger Stahl mit Neutronen bestrahlt wird, desto spröder wird 
er", sagt Michael Sailer, Atomexperte beim Öko-Institut und lange 
Jahre Mitglied der Reaktorsicherheitskommission. In vielen Reaktoren 
sei diese Versprödung allerdings schneller vorangeschritten als 
ursprünglich berechnet. Das Notkühlwasser werde in diesen Reaktoren 
vorgeheizt, "um die Spannungen bei einer Notkühlung zu begrenzen, 
weil der Reaktordruckbehälter nicht mehr so stabil ist, wie er sein 
sollte", sagt Wolfgang Renneberg, bis 2009 Leiter der Abteilung 
Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium. 

Auch Materialwissenschaftlern bereitet diese Praxis große Sorge. "Das
Vorwärmen bedeutet: entweder sind schon Risse da, die relativ groß 
sind. Oder man ist unsicher, ob die Versprödung nicht vielleicht doch
größer ist, als bisher angenommen", erklärt Sicherheitsexpertin Ilse 
Tweer, Mitglied des Atomforscher-Netzwerkes INRAG. 

Im Februar dieses Jahres war bekannt geworden, dass in dem belgischen
Reaktor Doel-3 wegen zahlreicher Risse im Reaktorbehälter das 
Notkühlwasser vorgeheizt wird. WDR und SZ liegen nun Dokumente vor, 
wonach in den beiden "Schwester-Reaktoren" Doel-1 und Doel-2 bereits 
1992 damit begonnen wurde, das gleiche Verfahren anzuwenden. In 
Tschechien bestätigte die Betreiberfirma CEZ, dass das Notkühlwasser 
in allen sechs Reaktoren des Landes bis heute vorgeheizt wird - in 
Temelin sogar seit Inbetriebnahme im Jahr 2000, im AKW Dukovany seit 
1992. "Das ist keine Sicherheitsmaßnahme", kommentiert ein Sprecher 
der Betreiberfirma CEZ, "sondern Ergebnis einer ständigen 
Verbesserung." Ziel sei lediglich, die Auswirkungen eines möglichen 
Einsatzes der Notkühlung "auf die Lebenszeit des 
Reaktordruckbehälters zu verringern". 

Die finnische Betreiberfirma "Fortum" bestätigte ebenfalls die 
Recherchen von WDR und SZ, wonach in den beiden Reaktoren Loviisa-1 
und Loviisa-2 das Notkühlwasser bereits seit 1990 vorgeheizt wird. 
Als Grund nennt die Firma, im Falle eines Unfalls wolle man 
Temperaturschocks vermeiden, vor allem im Reaktordruckbehälter. Auch 
für die Reaktoren in Frankreich - wo u.a. das seit langem umstrittene
Atomkraftwerk Fessenheim an der deutsch-französischen Grenze 
betroffen ist - und der Slowakei liegen Dokumente über das Vorheizen 
des Notkühlwassers vor. Die Betreiber reagierten jedoch auf die 
Anfragen von WDR und SZ nicht. In deutschen Atomkraftwerken wird 
diese Praxis derzeit nicht angewandt.

Im Normalfall beträgt die Temperatur des Notkühlwassers fünf bis zehn
Grad. "Die Vorwärmung von Notkühlwasser bedeutet einen Abbau von 
wichtigen Sicherheitsreserven", meint der frühere Atomaufseher 
Renneberg: "Wenn man nicht mehr sicher ist, dass der 
Reaktordruckbehälter das normal temperierte Notkühlwasser aushält, 
dann ist das allein schon ein Alarmsignal." Renneberg weist außerdem 
darauf hin, dass durch dieses Verfahren neue Risiken entstehen - 
etwa, wenn die Heizung ausfällt oder nicht ausreichend vorgewärmtes 
Wasser zur Verfügung steht. "Bei solch einer Maßnahme sträubt sich 
wirklich alles in mir. Das geht an die Substanz", so Renneberg.

Das Vorheizen des Kühlwassers ändert auch nichts an der 
beeinträchtigten Stabilität des Reaktordruckbehälters selbst. "Damit 
können sich die Betreiber ein paar Jahre weiteren Betrieb kaufen", 
erklärt Atomexperte Michael Sailer gegenüber WDR und SZ, "die 
Neutronenversprödung wird damit aber nicht aufgehalten. Egal, was man
macht, man gerät immer näher an die Grenzen des Materials."

Der ehemalige GRS-Mitarbeiter und Atomsicherheitsexperte Manfred 
Mertins ist überzeugt, dass von den Reaktoren, in denen das 
Notkühlwasser vorgeheizt wird, ein erhöhtes Risiko ausgeht. Er 
plädiert deshalb dafür, sie abzuschalten: "Aus sicherheitstechnischen
Gesichtspunkten kann ich so eine Anlage nicht betreiben", so Mertins.

Die genaue Zahl der Reaktoren, in denen dieses Verfahren derzeit 
angewandt wird, ist nicht öffentlich bekannt. Weder die 
Internationale Atomenergie Behörde, IAEA, noch die nationalen 
Aufsichtsbehörden haben bislang Angaben dazu veröffentlicht.

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