Das Erste, Montag 4. November 2002, 21.45 Uhr
Am Abgrund
Die
Kuba-Krise 1962
Von Werner Biermann
Köln (ots)
Zu keinem Zeitpunkt des Kalten Krieges war die Welt einer nuklearen Katastrophe näher als während der Kuba-Krise vor 40 Jahren im Oktober 1962. Die übliche Version des Geschehens: Aus heiterem Himmel stationieren die Sowjets auf Kuba Mittelstreckenraketen und überrumpeln damit die nichtsahnende US-Regierung, deren Verhandlungsgeschick den Dritten Weltkrieg schließlich verhindert. Doch Historiker erzwangen ab 1987 die Freigabe von bis dahin geheimen Dokumenten aus Regierungs-, Geheimdienst- und Pentagonakten und förderten nach und nach eine völlig andere Version der Kuba-Krise zu Tage: Die Aufstellung sowjetischer Mittelstrecken-Raketen auf der Zuckerinsel war die Reaktion auf eine Kette politischer Provokationen seitens der USA, die sich die UdSSR nicht länger gefallen lassen wollte.
Bereits 3 Jahre zuvor, 1959, hatten die Amerikaner atomare Jupiter-Raketen in der Türkei stationiert - unakzeptabel für die Sowjets: "In sechs Minuten konnten diese Raketen Kiew zerstören oder Charkow!" so der damalige Assistent Nikita Chruschtschows, Fjodor Burlatsky. 1961, ein Jahr vor der Krise, startete die US-Regierung ein groß angelegtes Rüstungsprogramm, ausdrücklich tauglich für den Erstschlag. Eine Bedrohung für die Sowjetunion, deren angebliche Raketen-Überlegenheit für den Wahlkampf des US-Präsidenten J.F.Kennedy erfunden wurde. Im gleichen Jahr scheiterte die mit Exilkubanern ausgeführte US-Invasion Kubas in der Schweinebucht - "Ein absolutes Debakel, eine der größten Dummheiten, die wir je begehen konnten", gibt der damalige US-Verteidigungsminister Robert Mc Namara heute zu. 1962 werden Pläne ausgearbeitet, nach denen im Oktober 1962 eine weitere US-Invasion der Revolution in Kuba ein Ende bereiten sollte. Die Kubaner wissen davon: "Wir rechneten fest mit einer neuen Aggression gegen Kuba und hatten deshalb einen Vertrag über Waffenlieferungen mit der Sowjetunion geschlossen," erzählt Jorge Risquet, ein Kampfgefährte Fidel Castros, der zunächst um ein gutes Verhältnis zu den USA bemüht war, von dieser aber entschieden zurückgewiesen wurde. Die Stationierung der sowjetischen Raketen war auch eine Reaktion auf die ständige Bedrohung Kubas durch die USA. Was die Kubaner allerdings nicht wollten und was in den USA noch bis vor kurzem unbekannt war: Bei den im Spätsommer 1962 auf Kuba stationierten sowjetischen Raketen handelte es sich nicht nur um konventionelle, sondern auch um atomare Waffen: "Chruschtschow wusste mehr als wir", gibt McNamara heute zu. "Er wusste, dass es nukleare Sprengköpfe gab."
"Es war für die Amerikaner eine psychologische Krise," urteilt der Sohn Nikita Chruschtschows Sergej in dieser Dokumentation. "Sie mussten akzeptieren, dass sie nun wie andere auch verwundbar waren."
"Am Abgrund" - eine Dokumentation, die Vorgeschichte und Ablauf der Kuba-Krise exakt nachzeichnet und dabei erstmals nicht vorwiegend die US-Sicht, sondern auch die sowjetische und kubanische Perspektive offen legt. Eine packende Dokumentation, in der hochrangige Zeitzeugen - amerikanische, russische und kubanische Beteiligte - ihre jeweilige Version des Geschehens erzählen. Ergänzt durch zum Teil bislang unbekanntes Archivmaterial entschlüsselt WDR-Autor Werner Biermann so Stück für Stück die unglaublichen und doch tatsächlichen Hintergründe der Kuba- Krise, die die Menschheit an den Rand des Abgrunds führte. "Man kann nicht behaupten, dass wir den Atomkrieg wegen geschickter Führung abwenden konnten", weiß McNamara heute. "Es war nichts anderes als unverschämtes Glück. Denn die Entscheidungen beider Seiten waren beeinflusst von Fehlinformationen und falschen Einschätzungen."
Redaktion Gudrun Wolter Sabine Rollberg
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