Chaostage in Berlin und Erfurt Kommentar der Fuldaer Zeitung zur Situation in Thüringen (8. Februar 2020)
Fulda (ots)
Im Bemühen um Schadensbegrenzung und Rückgewinnung von Glaubwürdigkeit zerreiben sich die politischen Akteure in Erfurt und Berlin und laufen Gefahr, den Fehleinschätzungen vor dem 5. Februar 2020 neue folgen zu lassen. Der größte Irrtum unter den Lösungen, die nun diskutiert werden: die Forderung der CDU, die Sozialdemokraten und Grünen in Thüringen müssten einen Ramelow-Nachfolger aufstellen, der auch für die CDU-Fraktion wählbar sei. Zu glauben, die Linkskoalition lasse sich auseinanderdividieren und sei bereit, Ramelow auf dem Altar der politischen Mitte zu opfern, ist an Naivität nicht mehr zu überbieten.
Vielleicht soll es vom Totalversagen der CDU-Bundesvorsitzenden ablenken, für die die Thüringer Verhältnisse zu einer Existenzkrise geworden sind. Nachdem Annegret Kramp-Karrenbauer die Parteifreunde in Erfurt unmittelbar nach der Landtagswahl schon nicht unter Kontrolle gebracht hatte, gelingt es ihr nun, im Chaos der Kemmerich-Wahl, erst recht nicht. Ihre Forderung nach Neuwahlen wird nicht weiter verfolgt; AKK fehlt es an Autorität, Durchsetzungsvermögen und Überzeugungskraft. So lässt sie sich von Mohring und seinen Fraktionskollegen düpieren, die den Machtkampf einstweilen für sich entscheiden. Die Kanzlerschaft, sofern sie jemals ihr Ziel war, rückt angesichts ihrer offen zur Schau getragenen Hilflosigkeit in weite Ferne. Laschet, Merz und Spahn scheinen sich - so lassen sich ihre Auftritte interpretieren - längst in Lauerstellung zu befinden.
Nicht viel besser ist es derzeit um die FDP bestellt: Der Kurs von Parteichef Lindner, der angeblich grünes Licht für die Wahl Kemmerichs mit AfD-Stimmen gegeben hatte, irritiert auch viele Liberale. Für seinen Fehler mag er sich gestern im Vorstand die Absolution geholt haben. Doch wie es beim Wähler aussieht, das ist eine ganz andere Frage. Ruhe jedenfalls dürfte auch bei den Liberalen vorerst nicht einkehren, zumal Kemmerich gestern seinen Rücktritt verschob und das Interesse an einer Neuwahl angesichts der jüngsten Umfrageergebnisse schwinden dürfte.
Insofern hat auch CDU-Landeschef Mohring Unrecht, wenn er sagt: "Neuwahlen lösen die schwierige Situation in Thüringen nicht auf." Das Gegenteil ist anzunehmen, denn wahrscheinlich gäbe es mit einer absoluten Mehrheit von Linken, SPD und Grünen glasklare Verhältnisse. Das mag für viele mit Blick auf manchen Alt-SEDler mit Stasi-Vergangenheit in der Fraktion eine Katastrophe sein. Doch so funktioniert eben Demokratie - und sie würde es auch aushalten. Gleichwohl kann der Weckruf für Berlin schriller nicht sein: Orientiert euch endlich wieder mehr an den Bedürfnissen und Nöten der Menschen, sonst werden die Thüringer Chaostage irgendwann kein singulärer politischer Betriebsunfall mehr sein. / Bernd Loskant
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