Technische Universität München
Künstliches zuckerbindendes Protein könnte Zellwachstum bremsen
TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN
Corporate Communications Center
Tel.: +49 8161/ 71-5403 - E-Mail: presse@tum.de
Dieser Text im Web: https://www.tum.de/nc/die-tum/aktuelles/pressemitteilungen/details/35947/
Bildmaterial mit hoher Auflösung: https://mediatum.ub.tum.de/1540812
PRESSEMITTEILUNG
Künstliches zuckerbindendes Protein könnte Zellwachstum bremsen
Zuckerstrukturen auf Viren und Tumorzellen blockieren
Bei einer Virusinfektion gelangen Viren in den Organismus und vermehren sich in den Körperzellen. Viren setzen sich oft gezielt auf die Zuckerstrukturen der Zellen ihres Wirts oder präsentieren ihrerseits charakteristische Zuckerstrukturen auf ihrer Oberfläche. Forschende der Technischen Universität München (TUM) haben ein neuartiges Proteinreagenz zur Erkennung biologischer Zuckerstrukturen entwickelt, das die Ausbreitung einer Erkrankung im Körper blockieren kann, wenn es an die Zuckerstrukturen einer Zelle oder eines Erregers andockt.
Das Labor von Arne Skerra, Professor für Biologische Chemie, beschäftigt sich mit der Herstellung von künstlichen Bindeproteinen, die für therapeutische Zwecke einsetzbar sind. Aktuelle Forschungsergebnisse des Labors eröffnen nun den Weg zur Entwicklung neuartiger Bindeproteine für biologische Zuckerstrukturen, die sowohl bei Krebs- als auch bei Infektionserkrankungen eine große Rolle spielen.
Erkennung biologischer Zuckerstrukturen
"Die Erkennung von speziellen Zuckermolekülen, so genannten Kohlenhydraten, ist bei vielen biologischen Prozessen von entscheidender Bedeutung", erklärt Prof. Skerra. Damit der Körper erkennt, wohin welche Zellen gehören oder ob Zellen fremd sind, haben diese häufig einen Marker aus Zuckerketten, die an die Außenseite der Zellmembran oder an Membranproteine geknüpft sind. Auch Krankheitserreger verfügen über eigene Zuckerstrukturen oder können sich daran festsetzen.
Proteine, die vielfältigen Funktionsträger aller Zellen, haben jedoch ganz allgemein eine geringe Affinität gegenüber Zuckern. Deren molekulare Erkennung ist also schwierig. Grund dafür: Wasser sieht den Zuckermolekülen ähnlich, so dass diese in der wässrigen Umgebung der Zellen quasi getarnt sind. Die Gruppe von Prof. Skerra machte sich auf die Suche nach einem künstlichen Bindeprotein mit einer chemischen Gruppierung, die die biologischen Zuckerstrukturen leichter erkennen lässt.
Borsäuregruppe als Aminosäure in Protein eingebaut
Aminosäuren sind die Bausteine der Proteine. Üblicherweise nutzt die Natur für die Vielfalt der Proteine nur 20 Aminosäuren. "Mit den Mitteln der Synthetischen Biologie nutzten wir zusätzlich eine künstliche Aminosäure", berichtet Forscherin Carina A. Sommer.
"Uns ist es gelungen, eine Borsäuregruppe, die von sich aus Affinität zu Zuckermolekülen hat, gezielt in die Aminosäurekette eines Proteins einzubauen. Damit haben wir eine grundlegende neue Klasse von Bindeproteinen für Zuckermoleküle kreiert", erklärt Sommer. Diese künstliche Zuckerbindefunktion ist natürlichen Bindeproteinen (so genannten Lektinen) in ihrer Stärke und auch den Möglichkeiten zur spezifischen Ausgestaltung überlegen.
"Die Zucker-Bindungsaktivität von Borsäure und ihren Derivaten ist seit fast einem Jahrhundert bekannt", sagt Prof. Skerra. "Borsäure ist in der unbelebten Natur verbreitet und kaum toxisch, aber sie wird von Organismen bislang praktisch nicht genutzt."
"Mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse haben wir es geschafft, die Kristallstruktur eines Modell-Komplexes dieses künstlichen Proteins aufzuklären und konnten damit unser biomolekulares Konzept bestätigen", erklärt Wissenschaftler Dr. Andreas Eichinger.
Nächster Schritt: Entwicklung für konkrete medizinische Anwendungen
Nach etwa fünf Jahren Grundlagenforschung kann die Entwicklung aus Prof. Skerras Labor nun für konkrete medizinische Anwendungen genutzt werden. "Unsere Erkenntnisse sollten nicht nur die zukünftige Entwicklung von neuartigen Kohlenhydratliganden in der Biologischen Chemie unterstützen, sondern sie ebnen den Weg zu hochaffinen Wirkstoffen zur Ansteuerung oder Blockierung medizinisch relevanter Zuckerstrukturen auf Zelloberflächen", fasst Prof. Skerra zusammen.
Das "Blockierungsmittel" könnte beispielsweise bei Erkrankungen zum Einsatz kommen, bei denen starkes Zellwachstum oder das Andocken von Krankheitserregern an Zellen eine Rolle spielt, also in der Onkologie und der Virologie. Wenn es gelingt, die Zuckerbindungsfunktion zu blockieren und die Erkrankung zu bremsen, verschafft man damit dem Immunsystem mehr Zeit, die körpereigene Abwehr vorzubereiten.
---
Publikation:
Carina A. Sommer, Andreas Eichinger, and Arne Skerra (2020): A Tetrahedral Boronic Acid Diester Formed by an Unnatural Amino Acid in the Ligand Pocket of an Engineered Lipocalin. ChemBioChem 21:469-472. DOI: 10.1002/cbic.201900405
Bildmaterial für Journalisten: https://mediatum.ub.tum.de/1540812
Kontakt:
Prof. Dr. Arne Skerra
Technische Universität München
Lehrstuhl für Biologische Chemie
Tel.: +49 (0)8161 71-4351
Die Technische Universität München (TUM) ist mit rund 600 Professorinnen und Professoren, 43.000 Studierenden sowie 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine der forschungsstärksten Technischen Universitäten Europas. Ihre Schwerpunkte sind die Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Lebenswissenschaften und Medizin, verknüpft mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die TUM handelt als unternehmerische Universität, die Talente fördert und Mehrwert für die Gesellschaft schafft. Dabei profitiert sie von starken Partnern in Wissenschaft und Wirtschaft. Weltweit ist sie mit dem Campus TUM Asia in Singapur sowie Verbindungsbüros in Brüssel, Kairo, Mumbai, Peking, San Francisco und São Paulo vertreten. An der TUM haben Nobelpreisträger und Erfinder wie Rudolf Diesel, Carl von Linde und Rudolf Mößbauer geforscht. 2006, 2012 und 2019 wurde sie als Exzellenzuniversität ausgezeichnet. In internationalen Rankings gehört sie regelmäßig zu den besten Universitäten Deutschlands. www.tum.de