Schwäbische Zeitung: Augenmaß bewahren - Leitartikel
Ravensburg (ots)
Die Kirchen beklagen, dass das Bewusstsein für den Wert christlicher Feiertage in der Bevölkerung zu gering ausgeprägt sei. Zuletzt gab es einen bizarr anmutenden Streit über Tanzverbote an Karfreitag.
Von einer ähnlichen Entwicklung in eigener Sache können Gewerkschafter berichten. In diesem Jahr wird der 1. Mai - der Tag der Arbeit - vor allem als perfekter Brückentag für ein langes Wochenende genutzt, siehe die Stauprognosen von Verkehrsexperten. Und der Rest der übrigen Spaßgesellschaft feiert zu Hause den Tanz in den Mai. Doch Innehalten wäre auch hier angebracht. Kaum jemand weiß noch, dass dieser Feiertag friedlicher Arbeiter gedenkt, die in den USA im 19. Jahrhundert im Zuge eines Generalstreiks getötet wurden.
Seitdem feiert sich die Arbeiterbewegung am 1. Mai selber und wer das kritisiert, der möge in Ruhe darüber nachdenken, wie dieses Land ohne Gewerkschaften aussehen würde. Der kalte Manchester-Kapitalismus hätte das Sagen, keine Spur von sozialer Marktwirtschaft. Gut also, dass gewissenhafte Gewerkschaften Einfluss auf die staatliche Entwicklung haben.
Im Vorfeld einer Bundestagswahl gilt der 1. Mai jedoch als geeigneter Resonanzboden für scharfe Rhetorik in die eine oder andere Richtung. Augenmaß und damit auch Orientierung gehen verloren. Dass alles schlechter wird, dass früher alles besser war, dass die Zukunft nur mit einer heroischen Kraftanstrengung zu meistern sei, sind Aussagen chronischer Pessimisten, denen wahrscheinlich niemand mehr helfen kann. Deutschland steht gut da. Die Aussichten sind trotz Schuldenkrise alles andere als schlecht.
Thomas Straubhaar vom angesehenen Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut HWWI fragt nicht nur sich, warum hierzulande so viele jammern. Vollbeschäftigung, also die Umsetzung des Grundrechtes auf Arbeit, sei in greifbarer Nähe, die Steuereinnahmen sprudelten - und das in Zeiten der Globalisierung, die den internationalen Wettbewerb unentwegt anfeuere.
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