SARS-CoV-2-Impfstoff für alle: Wie soll das gehen?
München (ots)
Zur Beendigung der SARS-CoV-2-Pandemie wartet die Welt auf Impfstoffe - und tatsächlich ist ein beispielloses Rennen im Gang: Rund 180 Projekte laufen. Sollte die wissenschaftliche Hürde genommen werden - die Zulassung eines wirksamen und sicheren Impfstoffes - steht die nächste Herausforderung vor der Tür: Die Herstellung und die Verteilung bisher nie dagewesener Mengen. Doch wer entscheidet, wer wann wieviel Impfstoff erhält?
Das Interesse an wirksamen Pandemieimpfstoffen ist nicht nur eine Frage von Gesundheit, sondern hat Auswirkungen auf die globale Wirtschaft. Es geht um Geld. Viel Geld: Der internationale Währungsfonds (IMF) schätzt die wirtschaftlichen Schäden durch die Pandemie auf 375 Milliarden Dollar im Monat. Eine wirksame und sichere Vakzine hätte demnach auch die Wirkung einer gigantischen Konjunkturspritze. Im Rennen um den Impfstoff mit dem höchsten wirtschaftlichen Nutzen in der Geschichte der Menschheit dürfte sie ganz oben mitspielen.
Aber noch muss die Vakzine entwickelt werden. Und dann in schnellem Tempo in großen Mengen hergestellt werden. Nur um das einzuordnen: Momentan gibt es für die klassischen Grippeimpfstoffe eine globale Produktionskapazität für eine halbe Milliarde Dosen. Wahrscheinlich bräuchte man aber das zwanzigfache* davon. Das schreiben Prof. Dr. Dieter Cassel (Uni Duisburg-Essen), Prof. Dr. Volker Ulrich (Uni Bayreuth) und die beiden in der pharmazeutischen Industrie beschäftigten Gesundheitsökonomen Dr. Andreas Heigl und Dr. Andreas Jäcker in dem Artikel "Impfstoff für alle - wie soll das gehen?". Er ist in der Zeitschrift "RPG Recht und Politik im Gesundheitswesen" erschienen.
"Bottlenecks" in der Impfstoffversorgung gegen SARS-CoV-2
Aber das sind bei weitem nicht alle "Bottlenecks". Die bestehende Versorgunginfrastruktur ist naturgemäß für solche Mengen nicht ausgerüstet. Es dürfte an Transport- und Kühlkapazitäten fehlen bis hin zu der Frage: Gibt es eigentlich genug Ärztinnen und Ärzte, die zum Impfen zur Verfügung stehen? In einem Thesenpapier geht Prof. Dr. Matthias Schrappe, Uni Köln, davon aus, dass es rund tausend Arbeitstage, sprich ca. vier Jahre, dauern würde, rund 60 Millionen Menschen in Deutschland zu impfen - und das auch nur, wenn pro Tag 60.000 Impfungen verabreicht würden. Deshalb, so Prof. Ulrich, müssten im deutschen Gesundheitswesen schon jetzt alle Anstrengungen dafür unternommen werden, diese "Tageskapazität" deutlich zu steigern.
Ein großer Run auf ein sehr knappes Gut: Der Ökonom nennt das einen "Nachfrageüberhang". "Es ist abzusehen, dass die verfügbaren Impfstoffdosen global gesehen für geraume Zeit nicht zur Durchimpfung ausreichen", sagt Prof. Ulrich von der Uni Bayreuth. "Und es ist zu befürchten, dass es international zu einem unfairen Wettrennen, wenn nicht sogar zu einem Verteilungskampf kommen könnte." Ulrich könnte sich deshalb vorstellen, dass supranationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, die Weltgesundheitsorganisation sowie Organisationen wie die Impfallianz GAVI, ggf. flankiert von einem "Corona-Ethikrat", die globale Verteilung der Impfstoffe regeln. Und zwar, so Ulrich, "nach epidemiologisch abschätzbarem Bedarf oder globaler Systemrelevanz, aber eben nicht nach Staats- oder Unionsgrenzen." Eine sinnvolle Idee, die aber wohl wenig Chancen auf Realisierbarkeit hat. Dazu muss man gar nicht über den großen Teich schauen, wo "Was-auch-immer-First"-Politiken in Mode sind. "Auch Europa versucht in dieser Situation das Kunststück zu vollbringen, sich einerseits über Vorkaufsrechte bei Pharmakonzernen selbst abzusichern und andererseits an die globale Solidarität zu appellieren", so der Gesundheitsökonom.
Die Impfkaskade: Verteilung von COVID-19-Impfstoffen in Deutschland
Zu wenig Impfstoffe für zu viele Menschen - was bedeutet das für Deutschland? Auch dieser Frage gehen die Autoren nach. Zwar gibt es das Fell, was verteilt werden soll, noch nicht. Aber es macht angesichts der Herausforderungen Sinn, sich Gedanken zu machen, wie mögliche Impfstoffe sinnvoll verteilt werden können. Das Autorenteam hat deshalb eine "Impfkaskade" entwickelt. Sie müsste vor Zulassung des ersten Impfstoffes in Form einer "COVID-19-Impfstoffverordnung" vom Bund erlassen werden.
Die Impfstoffkaskade arbeitet mit drei Stufen:
- In der Stufe I (Priorisierung mit Impfpflicht des medizinischen Personals) wird ein Worst-Case-Szenario angenommen: Deutschland verfügt nur über ein geringes Kontingent an Dosen. In dieser Phase sollten selbständige und abhängige Erwerbspersonen höchste Priorität haben, die zur Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung unabdingbar sind (Gruppe A). Sie sollten bis zum Ende der Pandemie impfpflichtig sein. Dies ist aber nicht gleichzusetzen mit einem Impfzwang. Wer die Impfung verweigert, darf allerdings temporär nicht mehr patientennah tätig sein und übernimmt stattdessen nicht priorisierte Aufgaben im Gesundheitswesen.
- In Stufe II (Priorisierung nicht impfpflichtiger Personen) wird von einer fortschreitenden Durchimpfung von Gruppe A ausgegangen. Nun könnten in einer Gruppe B diejenigen geimpft werden, die im Falle einer Infektion besonderen Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind: z.B. Hochbetagte, Pflegebedürftige und Behinderte, Diabetiker oder Menschen mit risikorelevanten Vorerkrankungen. Als Gruppe C sehen die Autoren Menschen, bei denen es nicht in erster Linie um den Selbstschutz der Impflinge geht, sondern darum, das Risiko für Dritte zu verringern; etwa Eltern, Kranke pflegende Angehörige oder Erzieher: "Sie besonders zu schützen, ist nicht nur ethisch geboten, sondern aus Gründen der Aufrechterhaltung unseres ökonomischen, sozialen und politischen Systems", heißt es in dem RPG-Artikel. Gruppe B und C sollten über die Impfung selbst entscheiden können und mit einem "Impfpass" zur Freistellung von mobilitätsbeschränkenden Maßnahmen belohnt werden.
- Und schließlich Stufe III (COVID-19-Impfungen in der Regelversorgung): Sie sieht die Impfung des bisher nicht geschützten Teils der Bevölkerung vor (Gruppe D). Sollte es hier immer noch einen Nachfrageüberhang geben, schlägt das Autorenteam das Führen elektronischer Wartelisten der Gesundheitsämter vor. Auch hier soll die Impfentscheidung freiwillig sein.
Das Management der Impfung ist mit vielen Fragezeichen versehen: Wie hoch ist die Herdenimmunität; sprich: wie viele müssten eigentlich geimpft werden und wie oft, bis die Pandemie wirklich wirksam bekämpft ist? Wie schnell gelingt es, ein flächendeckendes System an Impfstationen aufzubauen? Wie viele Menschen wollen überhaupt geimpft werden? Wie wirksam ist der neue Impfstoff? Nur eines ist sicher: Es muss schnell gehen, wenn die lang ersehnten Impfstoffe zur Verfügung stehen.
Angesichts der Größe der Aufgabe macht es Sinn, die von den Autoren angeregte "COVID-19-Impfstoffverordnung" schnell umzusetzen, um dann die Weichen für ein transparentes Impfstoff-Management legen zu können. Denn nur "eine rationale, ökonomisch wie ethisch vertretbare Impfstoffverteilung könnte dazu beitragen, diese Zwangslage ohne Spaltung der Gesellschaft zu überstehen", so Prof. Ulrich.
Entwicklung von Corona-Impfstoffen: Hohes wirtschaftliches Risiko
Noch liegt der Ball aber in den Laboren der wissenschaftlichen Institute, Pharma- und Biotechnologieunternehmen in der ganzen Welt. Sie gehen ein hohes wirtschaftliches Risiko ein, denn die Entwicklung neuer Vakzine "ist teuer, langwierig und begleitet von einem hohen Risiko des Scheiterns", erklärt Prof. Ulrich. Beim HI-Virus etwa versucht man es seit mehr als zwanzig Jahren. "Der Rekord für die schnellste Entwicklung eines Impfstoffes hält der gegen Mumps mit vier Jahren Entwicklungszeit."
Wer Pandemieimpfstoffe entwickelt, muss sich noch vor Zulassung Gedanken machen, wie er schnell möglichst viel herstellen kann und entsprechend investieren - ein zusätzliches wirtschaftliches Risiko. Prof. Ulrich begleitet deshalb mit Sorge Diskussionen über die Aufhebung des Patentschutzes, mit der Begründung, in Zeiten der Krise seien Impfstoffe so etwas wie ein öffentliches Gut. Wer das fordere, "der übersieht, dass sie erst entwickelt werden müssen, bevor man sie verteilen kann. Alles was Anreize zur Innovation verringert, ist in der derzeitigen Pandemie ungeeignet." Innovationsfreundliche Rahmenbedingungen sieht er als Voraussetzungen dafür, dass pharmazeutische Unternehmen auch bei späteren Pandemien mit derselben Energie in die Entwicklung von Lösungen investieren können, wie das bei dieser der Fall ist. Anreize für Innovationen sind der Motor zur Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten. Wer will am Ende schon ohne sie dastehen?
* Prämisse: Für einen hohen Schutz muss zwei Mal geimpft werden, die angenommene Herdenimmunität liegt bei rund 65 Prozent, sodass "nur" rund 5 Milliarden Menschen geimpft werden müssten.
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