Über 72 Milliarden Euro Arznei-Rabatte
München (ots)
72,3 Milliarden Euro: Auf diesen Betrag summieren sich die Rabatte und andere Kostendämpfungsmaßnahmen, die die pharmazeutische Industrie zugunsten der Gesetzlichen Krankenkassen zwischen 2010 und 2020 gezahlt hat. Dass das negative Folgen hat, zeigt eine Studie.
https://www.pharma-fakten.de/news/details/1211-72000000000-euro/
Sparen ist in der Regel positiv konnotiert - und gilt meist als eine Tugend, die gerade in Deutschland hoch im Kurs steht. Sparen ist auch ein Dauerthema in der Gesundheitspolitik, bei der die angekündigten (wohl aber ausgebliebenen) "Kostenexplosionen" Legion sind. Dabei liegt ein Fokus auf den Ausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) für Arzneimittel. Auch die "explodieren" regelmäßig, obwohl die Zahlen eine andere Sprache sprechen, wenn man sie in den zeitlichen Kontext setzt. Denn der Anteil der GKV-Ausgaben für Arzneimittel an den Gesamtausgaben der GKV ist seit fünfzig Jahren stabil ( Pharma Fakten berichtete).
Schon heute ist die Pharmaindustrie stark belastet: Allein der gesetzliche Herstellerrabatt summierte sich in dem vergangenen Jahrzehnt auf 21,3 Milliarden Euro. Das seit 2011 geltende AMNOG-Gesetz der frühen Nutzenbewertung von Arzneimittelinnovationen steuerte 13,5 Milliarden, allgemeine vertragliche Rabatte noch einmal 37,5 Milliarden Euro bei. Ohne diese Rabatte wären die Arzneimittelausgaben der GKV durchschnittlich jährlich um 4,7 Prozent anstatt um 3,4 Prozent gestiegen. Das geht aus der Studie "Gesamtwirtschaftliche und gesundheitswirtschaftliche Auswirkungen der Rabatte auf pharmazeutische Produkte" hervor, die die BASYS Beratungsgesellschaft für angewandte Systemforschung im Auftrag der Pharmainitiative Bayern herausgebracht hat.
Die Sparbremse von heute in die Innovationsbremse von morgen
Diese Zahlen dürften Gesundheitspolitiker freuen. Ob sie aber langfristig sinnvoll sind, bezweifeln die Autoren der Studie: "Die hohen Rabatte haben tiefe Spuren in der Kapitalrentabilität und im Wachstum der pharmazeutischen Industrie hinterlassen." Soll heißen: Die Kostendämpfung hat direkte Auswirkungen auf die Forschungsetats der Unternehmen. Denn: "Investitionen können die Hersteller nur aus laufenden Gewinnen generieren. Werden diese abgeschöpft, fehlt das Investitionspotential und damit die Voraussetzung für notwendige Innovationen bei bislang noch nicht optimal therapierbaren Indikationen."
Die Sparbremse von heute ist die Innovationsbremse von morgen. Wissenschaftlichen Erfolg, der sich in neuen Impfstoffen oder innovativen Therapien für Patient:innen ausdrückt, gibt es nur, wenn Unternehmen in der Lage sind, wirtschaftlich erfolgreich zu arbeiten, und genügend Geld zum investieren haben.
Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland
Schaden nehmen nicht nur die Patient:innen von morgen. Auch dem Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland kann ein rigider Sparkurs einen Bärendienst erweisen. Denn wie kaum eine andere Branche steht die forschende Pharmaindustrie für ihre Innovationskraft, heißt es in der Untersuchung: "Der größte Teil der Investitionen der pharmazeutischen Industrie fließt in das Wissenskapital, das an den pharmazeutischen Investitionen einen immer größeren Anteil einnimmt. Zuletzt betrug der Anteil der Wissensinvestitionen 78 Prozent (2019). Somit werden heute nahezu 4 von 5 Euro, die von Pharmaunternehmen investiert werden, in die Forschung und Entwicklung gesteckt." Zum Vergleich: Im Verarbeitenden Gewerbe beträgt das Wissenskapital 39,7 Prozent, im Fahrzeugbau 51,8 Prozent des Bruttoanlagevermögens.
Zum Wissenskapital zählen etwa Forschungs- und Entwicklungsergebnisse, Software und Datenbanken, Urheberrechte, Marken, Organisationskapital, Design, Finanzinnovationen und Weiterbildung. "Die Investitionsquote in das Wissenskapital der pharmazeutischen Industrie allein stieg im Zeitraum 2014 - 2019 von 23,1 auf 31,6 Prozent der Bruttowertschöpfung." Dies hingegen dürfte Wirtschaftspolitiker:innen freuen. Pharmaunternehmen hinterlassen in der gesamtwirtschaftlichen Erfolgsbilanz der Bundesrepublik einen nachhaltigen ökonomischen Fußabdruck - eben weil sie Innovationstreiber sind.
Um die Folgen von Sparmaßnahmen zu verdeutlichen, hat BASYS ein Modell auf Basis von Zahlen der amtlichen volkswirtschaftlichen und gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung erstellt und die Folgen der Erhöhung des Herstellerrabattes von 7 auf 16 Prozent für die Jahre 2023 bis 2030 gerechnet: Demnach bringt die Erhöhung des Herstellerrabattes Einsparungen von 22,3 Milliarden Euro. Dem stehen aber Verluste von 39,1 Milliarden Euro gegenüber (Verluste an Bruttowertschöpfung: -18,7 Mrd.; unterlassene Investitionen: -20,4 Mrd. EUR). Das, so die Autoren, ist noch ein optimistisches Szenario; es unterstellt, dass die GKV die realisierten Einsparungen in voller Höhe zusätzlich für andere Bereiche der Gesundheitswirtschaft ausgibt. Sollten die Einsparungen aber für konsumtive Ausgaben getätigt werden, stehen den 22,3 Milliarden Euro fast 64 Milliarden Euro an volkswirtschaftlichen Verlusten gegenüber.
Das Fazit der BASYS-Studie: "Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass aufgrund der negativen Effekte einer Erhöhung des Herstellerrabatts oder vergleichbarer Kostensenkungsmaßnahmen auf die Wertschöpfung, die Kapitalrentabilität, die Forschung und Entwicklung und den Produktionsstandort Deutschland, von gesundheitlichen Effekten ganz abgesehen, solche nicht empfohlen werden." Denn die negativen Wertschöpfungs- und Investitionseffekte belaufen sich auf das Zwei- bis Dreifache der Einsparung einer Erhöhung des Herstellerrabatts.
Einfacher ausgedrückt: Sparen kann richtig teuer werden.
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