Europawahl: Auch 2024 sind Wahlprogramme oft unverständlich
PRESSEMITTEILUNG DER UNIVERSITÄT HOHENHEIM
45 Jahre Europawahl:
Auch 2024 sind Wahlprogramme oft unverständlich
Hohenheimer Verständlichkeitsindex: Universität Hohenheim analysiert Wahlprogramme auf formale Verständlichkeit und auf populistische Formulierungen.
Bandwurmsätze mit bis zu 60 Wörtern (AfD), Wortungetüme wie „Quellentelekommunikationsüberwachung“ (Linke), „Female-Founders-Netzwerke“ (FDP) und „Blackrock-Kapitalismus“ (BSW) oder Fachbegriffe wie „autochton“ (Grüne) und „Go-to-Areas“ (SPD): Die Wahlprogramme der Parteien zur Europawahl sind für viele Laien schwer zu verstehen. Im Durchschnitt hat sich die Verständlichkeit gegenüber den letzten Europawahlen 2019 und 2014 sogar leicht verschlechtert. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Kommunikationswissenschaftler:innen der Universität Hohenheim in Stuttgart. Die Studie im Detail unter https://t1p.de/Verstaendlichkeit-Wahlprogramme-Europawahl-24
„Parteien sollten ihre Positionen klar und verständlich darstellen, damit die Wählerinnen und Wähler eine begründete Wahlentscheidung treffen können. Dazu dienen die Wahlprogramme“, betont der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim. Er hat zusammen mit Dr. Claudia Thoms die Wahlprogramme zu allen Europawahlen seit 1979 untersucht.
Mit Hilfe einer Analyse-Software fahnden die Forschenden unter anderem nach überlangen Sätzen, Fachbegriffen und zusammengesetzten Wörtern. Anhand solcher Merkmale bilden sie den „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“ (HIX). Er reicht von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich).
Wahlprogramme noch etwas unverständlicher als bei den Europawahlen 2014 und 2019
Im Durchschnitt ist die Verständlichkeit der Programme zur Europawahl mit 5,3 Punkten noch etwas niedriger als bei der Europawahl 2019 (5,8 Punkte) und bei der Europawahl 2014 (6,1 Punkte).
Für Prof. Dr. Brettschneider sind diese Werte enttäuschend: „Alle Parteien könnten verständlicher formulieren. Das zeigen gelungene Passagen in den Einleitungen und in den Schlussteilen. Die Themenkapitel sind hingegen das Ergebnis innerparteilicher Expertenrunden. Diesen ist meist gar nicht bewusst, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ihren Fachjargon nicht versteht. Wir nennen das den ‚Fluch des Wissens’.“
BSW mit der unverständlichsten Sprache, CDU/CSU am verständlichsten
Das formal verständlichste Europawahlprogramm liefert die CDU/CSU mit 8,2 Punkten auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex. Die CDU/CSU kann damit ihren ersten Platz aus dem Jahr 2019 halten. Die neu gegründete Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) verwendet hingegen die unverständlichste Sprache. Das BSW erreicht auf dem HIX lediglich 3,5 Punkte. Mit 4,0 Punkten belegt die AfD den vorletzten Platz – hinter den Grünen (4,4), der FDP (4,9) und der SPD (4,9).
Verständlichkeitshürden schließen Wählerinnen und Wähler aus
„Go-to-Areas“ (SPD), „autochton“ (Grüne), „Planetary-Health / One-Health-Ansatz“ (Grüne), „klimaresilient“ (Grüne), „Blackrock-Kapitalismus“ (BSW) oder „Carbon Border Adjustment Mechanism“ (FDP): Die Programme der Parteien enthalten zahlreiche Fremd- und Fachwörter. Vor allem für Leser:innen ohne politisches Fachwissen stellen diese eine große Verständlichkeitshürde dar.
Einen ähnlichen Effekt hätten Wortzusammensetzungen oder Nominalisierungen, so Dr. Claudia Thoms, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Kommunikationstheorie. Einfache Begriffe würden so zu Wort-Ungetümen, wie z. B. „Quellentelekommunikationsüberwachung“ (Linke), „Einlagensicherungs-Verbundlösungen“ (AfD) oder „Diversifizierungs- und Entschuldungsprogramme“ (Linke).
„Auch zu lange Sätze erschweren das Verständnis. Das gilt besonders für Wenig-Leser:innen. Sätze sollten möglichst nur jeweils eine Information vermitteln“, erklärt Dr. Thoms. „Der längste Satz findet sich im Programm der AfD mit 60 Wörtern. Aber auch bei allen anderen Parteien tauchen überlange Sätze auf. Sätze mit 30 und 40 Wörtern sind keine Seltenheit.“
Prof. Dr. Brettschneider fügt hinzu: „Die von uns gemessene formale Verständlichkeit ist natürlich nicht das einzige Kriterium, von dem die Güte eines Wahlprogramms abhängt. Deutlich wichtiger ist der Inhalt. Unfug wird nicht dadurch richtig, dass er formal verständlich formuliert ist. Und unverständliche Formulierungen bedeuten nicht, dass der Inhalt falsch ist. Formale Unverständlichkeit stellt aber eine Hürde für das Verständnis der Inhalte dar.“
BSW, Linke und AfD mit der populistischsten Sprache
Für die Europawahlprogramme 2024 haben die Hohenheimer Forschenden erstmals auch ein computerbasiertes Sprachmodell für die Erkennung populistischen Vokabulars verwendet. Dabei wird Populismus als eine Argumentationsstrategie verstanden, derer sich unterschiedliche Ideologien bedienen können. Gemein hätten Populisten unterschiedlicher Färbung, dass sie (1) das (eine, wahre) Volk als Gegenspieler einer (2) (entfremdeten, feindlichen) Elite begreifen. Typischerweise fokussierten Rechtspopulisten dabei vor allem auf Themen wie Migration, während Linkspopulisten eher ökonomische Themen in den Mittelpunkt stellten. Das Sprachmodell konzentriert sich auf die Dimension des Anti-Elitismus.
Demnach finden sich populistische Äußerungen in den Wahlprogrammen vor allem bei den Parteien links und rechts der politischen Mitte. „Anti-Elitismus ist ein Mittel, das insbesondere von der AfD, der Linken und dem BSW eingesetzt wird“, sagt Dr. Thoms. Der höchste Anteil von Sätzen mit Anti-Elitismus-Inhalten findet sich beim Bündnis Sahra Wagenknecht (13,4 Prozent), gefolgt von der AfD (10,2 Prozent) und der Links-Partei (7,7 Prozent).
Sofern die populistischen Aussagen eine ideologische Färbung aufweisen, entspricht diese Färbung den Erwartungen: Das BSW und die Linke weisen eher linkspopulistische Aussagen auf, die AfD eher rechtspopulistische.
HINTERGRUND: Hohenheimer Verständlichkeits-Analysen
Das Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Kommunikationstheorie, an der Universität Hohenheim untersucht seit 18 Jahren die formale Verständlichkeit zahlreicher Texte: Wahlprogramme, Medienberichterstattung, Kunden-Kommunikation von Unternehmen, Verwaltungs- und Regierungskommunikation, Vorstandsreden von DAX-Unternehmen.
Möglich werden diese Analysen durch die Verständlichkeits-Software „TextLab“. Die Software wurde von der H&H CommunicationLab GmbH in Ulm und von der Universität Hohenheim entwickelt. Sie berechnet verschiedene Lesbarkeitsformeln sowie Textfaktoren, die für die Verständlichkeit relevant sind (z. B. Satzlängen, Wortlängen, Schachtelsätze). Daraus ergibt sich der „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“. Er bildet die Verständlichkeit von Texten auf einer Skala von 0 (schwer verständlich) bis 20 (leicht verständlich) ab. Zum Vergleich: Doktorarbeiten in Politikwissenschaft haben eine durchschnittliche Verständlichkeit von 1,2 Punkten. Haushaltsreden im Deutschen Bundestag kamen 2023 im Schnitt auf 15,0 Punkte.
Weitere Informationen
Download Studie: https://t1p.de/Verstaendlichkeit-Wahlprogramme-Europawahl-24
Kontakt für Medien
Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim, Institut für Kommunikationswissenschaft
T 0711/459-24030, E frank.brettschneider@uni-hohenheim.de
Dr. Claudia Thoms, Universität Hohenheim, Institut für Kommunikationswissenschaft
T 0711/459-24030, E claudia.thoms@uni-hohenheim.de
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