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Ins Rutschen gekommen, PI Nr. 14/2025

Ins Rutschen gekommen, PI Nr. 14/2025
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Ins Rutschen gekommen

Wann verlieren amorphe Festkörper ihre Stabilität? Physiker der Universität Konstanz liefern ein Modell – mit einer Kiste voller Bauklötze.

Warum kommen Lawinen ins Rutschen? Und was spielt sich dabei im Inneren der Schneemenge ab? Wenn Sie sich diese Frage stellen, sind Sie einem physikalischen Problem ganz nahe. Dieses spielt sich nicht nur auf Berggipfeln und in Schneemassen ab – dort allerdings recht unkontrolliert –, sondern wird im Labor auch auf mikroskopisch kleiner Ebene in Materialien mit ungeordneter Teilchenstruktur studiert, zum Beispiel in Gläsern, Granulaten oder in Schäumen. Deren Teilchen können nämlich ganz ähnlich wie Lawinen „ins Rutschen“ kommen, wodurch die Struktur ihre Stabilität verliert und verformbar wird – und das sogar unabhängig von einer Temperaturveränderung. Was passiert da im Inneren einer solchen wackeligen Struktur?

Der Konstanzer Physiker Matthias Fuchs erforscht mit seinen Mitarbeitern Florian Vogel und Philipp Baumgärtel diese ungeordneten Festkörper. Vor zwei Jahren lösten sie ein altes Rätsel um Vibrationen in Gläsern, indem sie eine vergessene Theorie neu betrachteten. „Jetzt haben wir das Projekt weitergeführt, um die Frage zu beantworten, wann ein ‚unregelmäßiges Kartenhaus zusammenfällt‘. Uns geht es darum, zu klären, wann ein amorpher Festkörper seine Stabilität verliert und wie ein Sandhaufen anfängt zu rutschen“, so Fuchs. Mithilfe der sogenannten „Euclidean random matrix“ (ERM) Modelle deckten sie die Gesetzmäßigkeiten hinter diesem Stabilitätsverlust auf und entwickelten eine Theorie, um diesen Vorgang zu beschreiben – und vorherzusagen. Die beobachteten Effekte sind relevant für die Herstellung von Materialien mit verbesserten Eigenschaften, insbesondere für granulare Systeme und Schäume.

Wie eine Kiste voller Bauklötze

Stellen Sie sich das „Innere“ eines Festkörpers – also seine molekulare Teilchenstruktur – wie eine Kiste voller Bauklötze vor. Die Bausteine können darin sauber in Reih und Glied gestapelt sein, so dass sie sich gegenseitig Halt geben. Das entspräche einem geordneten Festkörper. Oder die Bausteine sind einfach achtlos in die Kiste geworfen, wild durcheinander und mit Lücken dazwischen – aber dennoch ineinander verkeilt, was ihnen eine gewisse Stabilität gibt. Das entspräche einem ungeordneten Festkörper.

Wenn Sie an der Kiste rütteln, wird im Fall der fein gestapelten Bausteine nicht viel an Bewegung passieren. Die Bausteine sind alle „fest an ihrem Platz“, stabilisieren sich gegenseitig und kehren bei kleineren Rüttlern wieder an ihre Ausgangsposition zurück. Anders sieht es hingegen bei der unordentlichen Box aus. Die Bausteine liegen kreuz und quer, zwischen ihnen gibt es Leerräume. Die einzelnen Bausteine haben dadurch mehr Spielraum, eine andere Position einzunehmen. Mit genügend Rütteln verrutschen immer mehr der Stützpfeiler, bis irgendwann der ganze Bauklotzstapel in sich zusammenfällt. Aber ab welchem Schwellenwert passiert das – und was genau geschieht dabei im Inneren der Box?

Der Blick in die Kiste

Den Konstanzer Physikern geht es natürlich nicht um Bauklötze, sondern um die Frage, wann ungeordnete Festkörper ihre molekulare Stabilität verlieren. Um das Phänomen zu untersuchen, rütteln Matthias Fuchs und sein Team nicht etwa von außen an der sinnbildlichen „Kiste“, sondern erzeugen Vibrationen im Inneren des Teilchensystems. Sie sorgen ferner dafür, dass keine Schwerkraft wirkt, die die instabile Struktur zerstören könnte, und überprüfen die räumliche Ausdehnung „steifer Bereiche“. Was passiert mit der Molekülstruktur, wenn immer mehr der stabilisierenden Verbindungen verloren gehen? An welchem Grenzwert ereignet sich der Übergang von Stabilität zum „Rutschen“ der losen Teilchen? Wie groß sind die Cluster loser Teilchen, welche nicht an eine feste Struktur angeheftet sind? Welche Regeln lassen sich daraus ableiten?

„Unsere Analysen zeigen, dass die Stabilität des Systems an einem Punkt verloren geht, an dem Vibrationen mit niedriger Frequenz nahe Null auftreten. Die Schallgeschwindigkeit verschwindet dort“, schildert Erstautor Florian Vogel. „Die Materialstruktur wird nun verformbar: Unter Krafteinwirkung kehren die Teilchen nicht länger elastisch an ihre Ausgangsposition zurück, sondern kommen ins Rutschen. In diesem losen Zustand bewegen sich die Teilchen in Clustern von wachsender Größe.“

Temperaturveränderungen spielen bei diesem Vorgang übrigens keine Rolle. Es geht hier also nicht etwa darum, dass ein Festkörper durch Erhitzung einen flüssigen Aggregatzustand erreicht. Der Stabilitätsverlust spielt sich vielmehr bei gleichbleibender Temperatur ab und wird durch Verdünnung der stabilisierenden Verbindungen hervorgerufen. Die Theorie und Simulationen der Konstanzer Forschungsgruppe betreffen also zum Beispiel molekulare Festkörper bei einer Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt von -273 Grad Celsius oder Schüttgüter wie Sand oder Erdreich, wo thermische Fluktuationen vernachlässigbar sind.

Die Forschung geht indes weiter, und zwar im Weltall: Voraussichtlich im Herbst 2025 sollen die Experimente auf der Internationalen Raumstation (ISS) unter Schwerelosigkeitsbedingungen wiederholt werden, im Projekt GraSCha (Granular Sound Characterization) des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln.

Sonderforschungsbereichs 1432

Die Forschung ist ein Projekt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1432 „Fluktuationen und Nichtlinearitäten in klassischer und Quantenmaterie jenseits des Gleichgewichts“ an der Universität Konstanz. Dieser beschäftigt sich mit dem Verhalten von physikalischen Systemen weit jenseits ihres Gleichgewichtszustands, darunter Quantenfluktuationen und ultraschnelle Elektronenprozesse, Magnetismus sowie nichtlineare Effekte in Nanomechaniksystemen.

Faktenübersicht:

  • Originalpublikation: Florian Vogel, Philipp Baumgärtel, and Matthias Fuchs, Self-consistent current response theory of unjamming and vibrational modes in low-temperature amorphous solids, Phys. Rev. X 15, 011030 DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevX.15.011030
  • Forschungsprojekt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1432 „Fluktuationen und Nichtlinearitäten in klassischer und Quantenmaterie jenseits des Gleichgewichts“ an der Universität Konstanz.
  • Prof. Dr. Matthias Fuchs leitet die Arbeitsgruppe zur Theorie der weichen Materie an der Universität Konstanz. Er ist Projektleiter am SFB 1432.
  • Die Doktoranden Philipp Baumgärtel und Florian Vogel sind Mitarbeiter der Arbeitsgruppe von Matthias Fuchs.

Hinweis an die Redaktionen:

Ein Bild kann im Folgenden heruntergeladen werden: https://www.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2025/ins_rutschen_gekommen.png

Bildunterschrift: Ausbreitung von Vibrationen in ungeordneten Materialien. Im Zentrum der Box wird ein Schallpuls ausgesendet, der sich im stabilen Material als kugelförmige Schallwelle ausbreitet (obere Reihe). Im lockeren Material bleibt die Vibrationsanregung lokalisiert auf einzelnen Clustern von Teilchen und setzt sich nicht durch die ganze Box fort (untere Reihe).

Copyright: AG Fuchs, Universität Konstanz

Kontakt:
Universität Konstanz
Kommunikation und Marketing
E-Mail:  kum@uni-konstanz.de

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