NSU-Mord: Ermittlungsverfahren wird wissenschaftlich aufgearbeitet, PI 15/2025
Ein Dokument
NSU-Mord: Ermittlungsverfahren wird wissenschaftlich aufgearbeitet
Die Hamburgische Bürgerschaft lässt den NSU-Mord an Süleyman Taşköprü wissenschaftlich aufarbeiten. Ein interdisziplinäres Forschungsteam unter Beteiligung der Universität Konstanz beginnt seine unabhängige Untersuchung.
Die Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zählen zu den erschreckendsten Terroranschlägen in der jüngeren deutschen Geschichte. Neun Menschen fielen der rassistisch motivierten Mordserie zwischen 2000 und 2006 zu Opfer. Die Ermittlungen von Polizei, Staatsschutz und Justiz stehen öffentlich in der Kritik, weil sie zunächst mit falschen Verdächtigungen einhergingen. So wurde über Jahre hinweg vorwiegend im Umfeld der Opfer ermittelt, während Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund der Taten nicht konsequent verfolgt wurden.
Die Hamburgische Bürgerschaft hat nun ein interdisziplinäres Forschungsteam mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des NSU-Mords an Süleyman Taşköprü in Hamburg beauftragt. Die Professor*innen Constantin Goschler (Ruhr-Universität Bochum), Daniela Hunold (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin), Charlotte Schmitt-Leonardy (Universität Bielefeld) und Wolfgang Seibel (Universität Konstanz) werden organisatorische, kulturelle und stadtgeschichtliche Faktoren des Ermittlungsverfahrens in den Blick nehmen und ein unabhängiges, umfassendes Gutachten erstellen.
Ermittlungsverfahren im Fokus der Aufarbeitung
„Die wissenschaftliche Aufarbeitung der NSU-Morde im Hamburger Kontext kann weder die polizeiliche noch die juristische Aufarbeitung und ebenso wenig die politische Aufarbeitung ersetzen“, betont Constantin Goschler, Sprecher des Forschungsteams. „Wir sind also keine schneidige Untersuchungsausschussvorsitzende, Super-Cops oder hellseherische Profiler, die nun bislang unentdeckte Tatspuren und Hintermänner oder -frauen aufdecken können. In anderer Hinsicht sind wir aber durchaus Fallanalytiker: Unser Fall, den wir interdisziplinär zu lösen suchen, sind jedoch die polizeilichen Ermittlungen und die strafrechtliche Aufarbeitung in Hamburg, die selbst zu unserem Untersuchungsgegenstand werden. Diese sind ebenso im stadtgeschichtlichen Zusammenhang wie im Kontext der bundesweiten Auseinandersetzung mit den NSU-Morden zu interpretieren.“
Die NSU-Ermittlungen von Polizei, Staatsschutz und Justiz werden folglich selbst im Fokus der wissenschaftlichen Aufarbeitung stehen. „Warum versteiften sich die polizeilichen Ermittlungen aller Mordkommissionen in fünf Bundesländern auf eine Hypothese, die sich als haltlos erwies?“, stellt Wolfgang Seibel eine der Schlüsselfragen der Untersuchung. Der Konstanzer Politik- und Verwaltungswissenschaftler ist ein Experte bei der Untersuchung von schwerwiegenden Fällen von Verwaltungsversagen. Gemeinsam mit seinen Kolleg*innen wird er nun die organisatorischen, aber auch sozialen und kulturellen Dynamiken innerhalb von Polizei, Staatsschutz und Justiz bei den NSU-Ermittlungen in den Blick nehmen.
Breite Expertise
Die Forschenden erhalten vollumfängliche Akteneinsicht. Neben juristischen und kriminologischen Methoden sollen auch qualitative sozialwissenschaftliche Interviews mit Zeitzeug*innen sowie Analysen der politischen Strukturen in Hamburg helfen, die Ereignisse zu rekonstruieren. Das Forschungsteam wurde daher bewusst interdisziplinär aufgestellt: „In unserer Untersuchungskommission vereinen sich zeitgeschichtliche, strafrechtliche, verwaltungswissenschaftliche und polizeisoziologische Kompetenzen“, zeigt Seibel auf.
In der wissenschaftlichen Untersuchung des Hamburger NSU-Mordes sieht Wolfgang Seibel eine wichtige Aufarbeitung, die über die Aufklärung eines organisatorischen und gesellschaftlichen Versagens bei der Strafverfolgung hinausgeht: „Den Hinterbliebenen des Mordopfers sowie der Hamburgischen Bürgerschaft und Stadtgesellschaft ist es ein großes Anliegen, dass der Fall aufgerollt und wissenschaftlich objektiv aufgeklärt wird. Für die Stadtgesellschaft Hamburgs ist dies nicht zuletzt ein wichtiger Prozess der Erinnerungskultur und Wiedergutmachung“, schließt Seibel.
Das Forschungsteam:
- Constantin Goschler (Ruhr-Universität Bochum) ist Professor für Zeitgeschichte und forscht unter anderem zu geheimen Nachrichtendiensten, zum Verhältnis von Sicherheit und Öffentlichkeit sowie zum Umgang mit Gewaltfolgen. Er war Mitautor einer grundlegenden Studie zum Bundesamt für Verfassungsschutz.
- Daniela Hunold (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) ist Expertin für Polizeisoziologie und forscht seit vielen Jahren zu Problemen und Herausforderungen polizeilichen Handelns in der Einwanderungsgesellschaft. Sie ist Mitherausgeberin des wissenschaftlichen Grundlagenbandes „Rassismus in der Polizei“ und arbeitete zuletzt mit einem Forschungsteam an einer Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu Diskriminierungsrisiken durch die Polizei.
- Charlotte Schmitt-Leonardy (Universität Bielefeld) ist Expertin für Strafverfahrensrecht und interdisziplinäre Rechtsforschung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten der letzten Jahre gehören: die Problematik komplexer Großverfahren, Akzeptanzbedingungen hoheitlicher Entscheidungen, Asymmetrien in der Strafprozessstruktur sowie Rechtsstaats- und Demokratieresilienz. Sie war von 2020-2022 Mitglied der Expertenkommission zur Verbesserung der Aufklärung komplexer Unglücksereignisse („Loveparade“).
- Wolfgang Seibel (Universität Konstanz) ist ein Experte bei der Untersuchung von schwerwiegenden Fällen von Verwaltungsversagen. In seinem Reinhart Koselleck-Projekt „Schwarze Schwäne der Verwaltung“ deckte er die Muster hinter den verwaltungsorganisatorischen Dynamiken auf, die zu dramatischen Folgen führten: darunter die Todesfälle bei der Massenpanik während der Love Parade in Duisburg 2010 oder Behördenversagen beim Jugendschutz, der Bauaufsicht oder des Katastrophenschutzes, jeweils mit schwerwiegenden Folgen für Leib und Leben von Menschen.
Hinweis an die Redaktionen:
Ein Foto kann im Folgenden heruntergeladen werden: https://www.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2025/nsu-mord.jpg
Bildunterschrift: Die Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit (links) gemeinsam mit den Mitgliedern der Untersuchungskommission (v.l.n.r.): Wolfgang Seibel, Charlotte Schmitt-Leonardy, Daniela Hunold und Constantin Goschler.
Copyright: Hamburgische Bürgerschaft/Michael Zapf
Kontakt: Universität Konstanz Kommunikation und Marketing E-Mail: kum@uni-konstanz.de
- uni.kn