Aurora Energy Research: Stopp russischer Gaslieferungen würde Europa vor große technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen stellen
Oxford/Berlin (ots)
- Russland liefert bisher 30 bis 40 Prozent des Gases und 50 Prozent der Kohle, die in Europa verbraucht werden. Mit dem Krieg in der Ukraine wird die Sicherheit dieser Versorgung infrage gestellt. Aurora Energy Research hat die Auswirkungen einer Reihe möglicher Szenarien auf die europäischen Gasmärkte analysiert.
- Szenarien wie Aussetzung von Nord Stream 2 und eine mögliche Unterbrechung der Gasflüsse durch die Ukraine sind begrenzte Risiken für die Sicherheit der Gasversorgung in Europa. Der Markt könnte mit erhöhten LNG-Importen sowie Pipeline-Lieferungen aus Nordafrika reagieren.
- Ein Szenario "Komplettausfall der russischen Gasimporte" würde dagegen im nächsten Winter eine Lücke von 109 Milliarden Kubikmeter (38 Prozent der vor der Krise erwarteten Importe) entstehen.
- Ein Teil der fehlenden Mengen ließe sich zum Beispiel durch eine Kombination aus höheren LNG-Importen und einer höheren Produktion aus inländischen und anderen Quellen schließen. Doch auch wenn alle Mittel zur Erhöhung des Angebots ausgereizt werden, bleibt eine Lücke von bis zu 33 Milliarden Kubikmeter, die durch ausreichende Reserven in Gasspeichern oder eine Senkung des Gasverbrauchs geschlossen werden müsste.
- Durch eine Kombination aus Wechsel von Gas auf Kohle, dem Weiterbetrieb von bis zu 25 Gigawatt zur Stilllegung vorgesehenen Kern- und Kohlekraftwerken in ganz Europa, Einsparungen oder Umstellung auf andere Brennstoffe in der Industrie sowie Effizienzsteigerungen und Verhaltensänderungen in den Haushalten ließe sich die Gasnachfrage um bis zu 14 Prozent senken, um eine etwaige Versorgungslücke zu schließen.
- Die meisten dieser Maßnahmen sind mit erheblichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technischen Herausforderungen verbunden. Vor allem die Verlängerung der Lebensdauer von Kern- und Kohlekraftwerken ist wirtschaftlich und technisch schwierig, da Stilllegungspläne zum Teil weit fortgeschritten sind und eine Brennstoffversorgung erst wieder aufgebaut werden müsste.
- Die Füllstände der Gasspeicher sind derzeit europaweit auf niedrigem Niveau. Sie aufzufüllen, um die Versorgungslücke im nächsten Winter zu schließen, würde Kosten zwischen 60 und 100 Milliarden Euro verursachen und ein Eingreifen der Regierungen erfordern.
Europa ist bei der Deckung seines Bedarfs in hohem Maße von russischem Gas abhängig - es deckt etwa 30 bis 40 Prozent des gesamteuropäischen Bedarfs, in einigen süd- und osteuropäischen Ländern noch mehr. Zudem liefert Russland auch die Hälfte der in Europa verbrauchten Kohle. Europas eigene Gasproduktion nimmt dagegen ab, zwischen 2015 und 2021 ist sie um 36 Prozent zurückgegangen. Die Füllstände der europäischen Gasspeicher liegen derzeit am unteren Ende der Werte in den vergangenen fünf Jahren. Die Abhängigkeit der EU von russischen Energielieferungen und die damit verbundene Anfälligkeit für die Folgen einer weiteren Eskalation des Krieges zwischen Russland und der Ukraine ist somit offensichtlich. Der EU-Kommissar für Energie, Kadri Simson, erklärte, die EU sei zwar darauf vorbereitet, dass Russland die Gaslieferungen einschränken könnte, doch wäre die Bewältigung einer vollständigen Unterbrechung eine "Herausforderung".
Um mögliche Risiken zu verstehen und Handlungsoptionen zu bewerten, hat Aurora Energy Research die Auswirkungen einer Reihe von Szenarien auf die europäischen Gasmärkte untersucht:
- Verzögerung der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 (NS2) nach der vorläufigen Aussetzung
- Mögliche Unterbrechung des russischen Gastransits durch die Ukraine
- Extremfall einer vollständigen Unterbrechung der Lieferungen aus Russland
Stopp von NS2 sowie Unterbrechung der Lieferungen durch die Ukraine: Kostenrisiken, aber kein Sicherheitsproblem
In einem Szenario, in dem sich die Inbetriebnahme von NS2 bis 2025 verzögert, zeigt die Aurora-Analyse, dass Europa stärker als bisher erwartet auf LNG angewiesen wäre: Bis NS2 in Betrieb gehen würden, müssten die LNG-Importe auf das Vor-Corona-Niveau von über 100 Milliarden Kubikmetern pro Jahr steigen.
In einem zweiten Szenario wird die NS2-Aussetzung mit einer Unterbrechung der Gasflüsse durch die Ukraine kombiniert. Um die europäische Gasnachfrage zu decken, müssten in diesem Fall sowohl die LNG-Importe gesteigert (auf ein Maximum von 128 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2024) als auch die Lieferungen durch Pipelines aus Nordafrika erhöht werden (auf über 50 Milliarden Kubikmeter).
Beide Szenarien stellen kein nennenswertes Risiko für die Versorgungssicherheit in Europa insgesamt dar. Allerdings besteht ein erhebliches Risiko von Engpässen innerhalb Europas aufgrund begrenzter nachgelagerter Pipelinekapazitäten, um Gas von LNG- und afrikanischen Importterminals zu den Verbrauchern zu bringen. Zudem würde die zunehmende Abhängigkeit von LNG und Pipeline-Gas aus Nordafrika einen erheblichen Aufwärtsdruck auf die Gaspreise in Europa ausüben: Schon jetzt sind die LNG-Preise in Asien parallel zu den europäischen Gaspreisen deutlich gestiegen, da erwartet wird, dass Europa mehr Gas aus nicht-russischen Quellen nachfragen wird. In Deutschland sind seit Beginn des Krieges die Großhandelspreise für Gas um 82 Prozent und für Strom um 78 Prozent gestiegen; sie liegen damit nahe an historischen Höchstständen.
Kompletter Stopp russischer Gaslieferungen wäre großes Risiko für Europas Versorgungssicherheit
Die Aurora-Analyse enthält auch ein Extremszenario, in dem es vor dem Winter 2022/23 zu einem Totalausfall der russischen Gaslieferungen nach Europa kommt. Das würde eine Minderlieferung von etwa 195 Milliarden Kubikmetern pro Jahr bedeuten oder 109 Milliarden während der Winterspitzenzeit (Oktober 2022 bis März 2023). Um diese Lücke in der Versorgung zu schließen, müssten sowohl das Angebot diversifiziert als auch Maßnahmen umgesetzt werden, um die Nachfrage zu reduzieren. Dies wäre jedoch mit erheblichen Kosten und Unsicherheiten verbunden und würde starke staatliche Eingriffe in die Strom- und Gasmärkte erfordern.
Mit folgenden Maßnahmen könnten alternative Gaslieferungen erhöht werden:
- Eine verstärkte heimische Produktion in Europa sowie erhöhte Importe aus Nordafrika könnten insgesamt 25 Milliarden Kubikmeter zusätzlich liefern; für weitere Steigerungen gibt es nur begrenzt Spielraum. Lieferungen aus Algerien und Libyen bleiben aufgrund höherer heimischer Nachfrage und einer stagnierenden Produktion unter der Kapazität der Pipelines.
- Das niederländische Groningen-Feld soll eigentlich bis Ende 2022 größtenteils stillgelegt werden. Wenn es in Betrieb bleibt, wären zusätzliche Lieferungen möglich, allerdings birgt dies Umweltrisiken, denn viele Bohrlöcher wurden wegen des Erdbebenrisikos stillgelegt; zudem sind die Produktionsgrenzen rechtlich bindend.
- Die europäischen Gasgroßhandelskunden müssten auf dem LNG-Spotmarkt konkurrieren, um sich den Rest der zusätzlichen Mengen von 24 Milliarden Kubikmeter zu erheblichen Kosten zu sichern. LNG-Einfuhren sind aufgrund der beschränkten Pipelinekapazitäten zwischen Spanien und Frankreich begrenzt; diese reicht nicht aus, um die spanische LNG-Importkapazität während der Wintersaison optimal zu nutzen.
- Zudem müssten die europäischen Gasunternehmen vor dem nächsten Winter für ausreichende Speicherstände sorgen, um die winterliche Spitzengasnachfrage abfedern zu können. Würden alle europäischen Speicher vor einem Ausfall der russischen Lieferungen auf etwa 90 Prozent ihrer Kapazität aufgefüllt, könnten sie im nächsten Winter bis zu 75 Milliarden Kubikmeter liefern und die Versorgungslücke schließen. Derzeit sind die Füllstände jedoch auf einem niedrigen Niveau, da die Gaspreise bereits während der Einspeisesaison im Sommer 2021 zu hoch waren, um Anreize für starke Einspeicherungen zu bieten. Die Kosten für eine Auffüllung der Speicher auf 90 Prozent belaufen sich bei aktuellen Gaspreisen auf 60 bis 100 Milliarden Euro. Daher könnte es notwendig sein, dass die europäischen Regierungen eingreifen, um sicherzustellen, dass die Speicher gefüllt werden. Die deutsche Regierung hat bereits interveniert und verlangt vor dem nächsten Winter Mindestspeichermengen.
Jede dann noch verbleibende Versorgungslücke müsste durch eine Senkung der Gasnachfrage in allen Wirtschaftssektoren überbrückt werden. Folgende Maßnahmen kommen dafür in Frage:
- Umstellung von Gas auf Kohle im Stromsektor: Wenn die Gaspreise hoch bleiben, sorgen schon wirtschaftliche Gründe für einen verstärkten Einsatz von Kohlekraftwerken, wodurch die Gasnachfrage im nächsten Winter um etwa 6 Milliarden Kubikmeter sinken könnte. Nachteil ist, dass dadurch die CO2-Emissionen steigen und die europäischen Bemühungen zur Dekarbonisierung untergraben werden.
- Die geplante Schließung von 25 Gigawatt Kern- und Kohlekraftwerken in ganz Europa könnte verschoben werden, um den Gasbedarf zur Stromerzeugung um rund 12 Milliarden Kubikmeter zu senken. Diese Maßnahme ist jedoch mit erheblichen technischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten behaftet, da sie eine Abkehr von den bestehenden individuellen Stilllegungsplänen der Kraftwerke bedeutet. Es dürfte zudem technisch und wirtschaftlich schwierig werden, kurzfristig die nötigen Brennstofflieferungen aus nicht-russischen Quellen zu erhalten, insbesondere für die Kernkraftwerke.
- Für einen verlängerten Einsatz von Kohlekraftwerken in den europäischen Ländern müsste die (um rund 13 Millionen Tonnen höhere) Nachfrage nach Kohle gesichert werden. Zudem würden die Treibhausgasemissionen um 22 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente steigen, ein weiterer Rückschlag für die europäischen Dekarbonisierungsbemühungen. Sollten auch Kohleimporte aus Russland gestoppt werden, würden sich zudem die Probleme noch weiter verschärfen, mit denen Betreiber von Kohlekraftwerken (insbesondere in Deutschland, Belgien und den Niederlanden) bereits jetzt bei der Beschaffung von Kohle zu kämpfen haben.
- Eine Verringerung der industriellen Nachfrage ist kurzfristig nur durch Umstellung auf andere Brennstoffe oder durch Drosselung der Produktion möglich - was zum Teil schon aufgrund der hohen Preise passieren würde. Damit verbunden sind Auswirkungen auf die Einnahmen energieintensiver Industrieunternehmen.
- Die Gasnachfrage der Privathaushalte würde kurzfristig nur geringfügig sinken, zum Teil bedingt durch die hohen Preise. Dies geht allerdings auf Kosten des Lebensstandards, zudem könnten mehr Haushalte in Energiearmut geraten. Verhaltensänderungen oder Energieeffizienzprogramme könnten den Verbrauch weiter senken, allerdings wirken sie eher mittel- bis langfristig.
- Ein ungewohnt kalter oder warmer Winter würde das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage beeinflussen. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass der Gasverbrauch in diesen Fällen um plus/minus 5 Prozent (10 Mrd. m³) schwanken könnte. Im Fall eines kälteren Winters wird es schwieriger, ausreichende Gaslieferungen sicherzustellen.
Zitate:
Richard Howard, Forschungsdirektor bei Aurora Energy Research:
"Der Russland-Ukraine-Krieg hat die Abhängigkeit Europas von russischen Energieimporten deutlich gemacht. Im Falle eines Ausfalls der russischen Gaslieferungen könnte Europa bis zu einem gewissen Grad auf LNG-Importe ausweichen und eine bescheidene Steigerung der heimischen Produktion erreichen. Die Gasspeicherung könnte eine Rolle spielen, aber das Auffüllen der Gasspeicher vor dem nächsten Winter dürfte angesichts der aktuellen Preise und der niedrigen Füllstände zwischen 60 und 100 Milliarden Euro kosten und ein Eingreifen der Regierungen erfordern. Um die Lücke zu schließen, könnte auch die Gasnachfrage reduziert werden - zum Beispiel, indem Kern- und Kohlekraftwerke länger am Netz gehalten werden, durch Effizienzsteigerungen oder Verhaltensänderungen - aber diese Maßnahmen sind mit erheblichen Kosten und Lieferrisiken verbunden.
Anise Ganbold, Leiterin der globalen Energiemärkte bei Aurora Energy Research:
"Mit der Eskalation des Krieges zwischen Russland und der Ukraine wird der Einsatz von Energielieferungen als "Waffe" immer wahrscheinlicher. Unsere Analyse zeigt, dass Europa nur dann in der Lage wäre, einen Totalverlust des russischen Gasimports vollständig auszugleichen, wenn es alle Register zieht. Europa könnte mehr Gas aus LNG, Afrika und der heimischen Produktion beziehen, aber es wären auch zusätzliche Maßnahmen zur Senkung der Gasnachfrage erforderlich. Eine Verringerung des Gasverbrauchs kann beispielsweise durch die Beibehaltung des Betriebs von Kohlekraftwerken und die Verringerung des industriellen Verbrauchs erreicht werden, aber viele Optionen sind mit erheblichen wirtschaftlichen Kosten und Klimarisiken verbunden und erfordern eine enge Koordinierung zwischen den Staaten. Regierungen und Regulierungsbehörden haben bereits in die europäischen Energiemärkte eingegriffen, um die Kosten für die Verbraucher zu begrenzen - diese Eingriffe werden nun noch länger nötig sein, um die Verbraucher vor steigenden Rechnungen und der Insolvenz von Versorgern zu schützen."
Manuel Koehler, Managing Director EMEA bei Aurora Energy Research:
"Ist es für Europa machbar, im nächsten Winter ohne russisches Gas auszukommen? Es würde Dutzende von Milliarden Euro kosten und erhebliche regulatorische Eingriffe in die Gas- und Strommärkte erfordern, aber ja, die EU könnte den Winter ohne Bezug von russischem Gas überstehen. Und sowohl die damit verbundenen Kosten als auch das Ausmaß der erforderlichen regulatorischen Eingriffe werden wahrscheinlich um eine Größenordnung unter dem Niveau liegen, das die EU und ihre Mitgliedstaaten zur Bewältigung der COVID-19-Krise aufbringen konnten.
Die Studie sowie weitere Informationen finden Sie unter https://ots.de/thMhRo
Über Aurora Energy Research
Aurora Energy Research ist ein Spezialist für Analysen und Modellierungen der europäischen und globalen Energiemärkte. Gegründet 2013 von Ökonomen an der Universität Oxford, um dem steigenden Bedarf an hochwertigen Daten und Fakten zum Energiemarkt zu begegnen, sind wir mittlerweile unter anderem der größte Anbieter von Strommarktanalysen in Europa. Mit mehr als 220 Energieexperten sowie Büros in Berlin, Oxford, Madrid, Sydney und den USA unterstützen wir Unternehmen, Regierungen und Institutionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette bei langfristigen strategischen Entscheidungen. Weitere Informationen finden Sie unter www.auroraer.com/
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