Alle Storys
Folgen
Keine Story von Universität zu Köln mehr verpassen.

Universität zu Köln

Kölner Forschungsgruppe entziffert rätselhafte Schrift aus der Antike

Das zentralasiatische Kuschana-Reich zählte zu den einflussreichsten Staaten der Antike. Nun hat eine Arbeitsgruppe des Instituts für Linguistik ein Schriftsystem entziffert, das neues Licht auf seine Geschichte wirft / Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Transactions of the Philological Society“

Einem Team von Nachwuchswissenschaftlern der Universität zu Köln ist es gelungen, eine Schrift zu entschlüsseln, die der Wissenschaft seit über siebzig Jahren Rätsel aufgibt: die sogenannte ‚unbekannte Kuschana-Schrift‘. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren untersuchten Svenja Bonmann, Jakob Halfmann und Natalie Korobzow Fotografien von in Höhlen gefundenen Inschriften sowie Schriftzeichen auf Schalen und Tontöpfen aus verschiedenen zentralasiatischen Ländern, um das Puzzle nach und nach zusammenzufügen. Am 1. März 2023 gaben sie ihre partielle Entzifferung der unbekannten Kuschana-Schrift bei einer Online-Konferenz der Akademie der Wissenschaften der Republik Tadschikistan erstmals bekannt. Aktuell können ca. 60 Prozent der Schriftzeichen gelesen werden, am verbleibenden Rest arbeitet die Gruppe intensiv. Eine ausführliche Beschreibung der Entzifferung ist nun unter dem Titel „A Partial Decipherment of the Unknown Kushan Script“ in der Fachzeitschrift Transactions of the Philological Society erschienen.

Neuer Fund brachte den Durchbruch

Die ‚unbekannte Kuschana-Schrift‘ ist ein Schriftsystem, das in Teilen Zentralasiens zwischen ca. 200 v. und 700 n. Chr. in Gebrauch war und sowohl mit frühen Nomadenvölkern der eurasischen Steppe wie den Yuèzhī als auch mit der Herrscherdynastie der Kuschana in Verbindung gebracht werden kann. Die Kuschana gründeten ein Imperium, das unter anderem für die Ausbreitung des Buddhismus bis nach Ostasien verantwortlich war. Sie schufen zudem monumentale Architektur und Kunstwerke.

Bislang sind mehrere Dutzend zumeist kurze Inschriften bekannt, die mehrheitlich aus dem Gebiet der heutigen Staaten Tadschikistan, Afghanistan und Usbekistan stammen. Es existiert auch ein längerer dreisprachiger Text (Trilingue), der in den 1960er Jahren von französischen Archäologen am Dašt-i Nāwur in Afghanistan gefunden wurde: auf einem Felsblock auf 4.320 m Höhe am Berg Qarabayu etwa 100 km südwestlich von Kabul.

Das Schriftsystem ist seit den 1950er Jahren bekannt, konnte jedoch bislang nicht entziffert werden. Im Jahr 2022 wurde in der Almosi-Schlucht im Nordwesten Tadschikistans, ca. 30 km von der Hauptstadt Duschanbe entfernt, ein kurzer zweisprachiger Text (Bilingue) gefunden, der in eine Felswand geritzt war. Neben der unbekannten Kuschana-Schrift enthält er auch einen Abschnitt in der bereits bekannten baktrischen Sprache. Diese Entdeckung führte dazu, dass mehrere Forscherinnen und Forscher unabhängig voneinander einen erneuten Entzifferungsversuch in Angriff nahmen. Den Kölner Linguisten gelang am Ende die partielle Entzifferung des Schriftsystems in Zusammenarbeit mit dem tadschikischen Archäologen Dr. Bobomullo Bobomulloev, der maßgeblich am Fund und an der Dokumentation der Bilingue beteiligt war.

Erfolg 200 Jahre nach der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen

Dabei nutzte das Team eine Methodik, die sich an erfolgreichen früheren Entzifferungen wie denen der ägyptischen Hieroglyphen mithilfe des Rosetta-Steins, der altpersischen Keilschrift oder der griechischen Linear-B-Schrift orientierte: Bonmann, Halfmann und Korobzow zogen anhand des bekannten Inhalts der zweisprachigen Inschrift aus Tadschikistan (Baktrisch und unbekannte Kuschana-Schrift) und der dreisprachigen Inschrift aus Afghanistan (Gandhari bzw. Mittelindoarisch, Baktrisch und unbekannte Kuschana-Schrift) nach und nach Rückschlüsse auf Schrifttyp und Sprache.

Den Durchbruch ermöglichten schließlich der in beiden baktrischen Paralleltexten auftauchende Königsname Vema Takhtu und der Titel ‚König der Könige‘, die in den entsprechenden Abschnitten in der unbekannten Kuschana-Schrift gleichermaßen ausfindig gemacht werden konnten. Insbesondere der Titel erwies sich als guter Indikator für die zugrundeliegende Sprache. Unter Zuhilfenahme des baktrischen Paralleltextes konnten die Linguisten Schritt für Schritt weitere Zeichenfolgen analysieren und immer neue Lautwerte einzelner Schriftzeichen bestimmen.

Schlüssel für ein besseres Verständnis der Kuschana-Kultur

Der Forschungsgruppe zufolge hielt die Kuschana-Schrift eine bislang völlig unbekannte mitteliranische Sprache fest. Vermutlich nimmt die Sprache eine Mittelstellung in der Entwicklung zwischen dem Baktrischen und dem einst in Westchina gesprochenen sogenannten Khotansakischen ein. Es könnte sich dabei entweder um die Sprache der sesshaften Bevölkerung Nordbaktriens handeln (auf einem Teil des Staatsgebietes des heutigen Tadschikistans) oder um die Sprache einiger Nomadenvölker Innerasiens (der Yuèzhī), die ursprünglich im Nordwesten Chinas lebten. Für einen gewissen Zeitraum diente sie offenbar neben Baktrisch, Gandhari/Mittelindoarisch und Sanskrit als eine der offiziellen Sprachen des Kuschana-Reichs. Vorläufig nennen die drei Forscher die neu identifizierte iranische Sprache ‚eteo-tocharisch‘.

Die Kölner Linguisten planen für die Zukunft in enger Zusammenarbeit mit tadschikischen Archäologen Forschungsreisen nach Zentralasien, da mit Neufunden weiterer Inschriften zu rechnen ist und vielversprechende potentielle Fundstätten bereits lokalisiert sind. Erstautorin Dr. des. Svenja Bonmann sagt: „Die Entzifferung kann dazu beitragen, unser Verständnis der Sprach- und Kulturgeschichte Zentralasiens und des Kuschana-Reichs auf eine neue Grundlage zu stellen, ähnlich wie es die Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen oder der Maya-Glyphen für unser Verständnis des alten Ägypten und der Maya-Zivilisation getan haben.“

Bildmaterial ist auf Anfrage vom Team Presse und Kommunikation der Universität zu Köln erhältlich.

Inhaltlicher Kontakt:

Dr. des. Svenja Bonmann

Institut für Linguistik der Universität zu Köln

+49 221 470 5624/5639

svenja.bonmann@uni-koeln.de

Presse und Kommunikation:

Jan Voelkel

+49 221 470 2356

j.voelkel@verw.uni-koeln.de

Veröffentlichung:

Bonmann, Svenja, Jakob Halfmann, Natalie Korobzow & Bobomullo Bobomulloev. 2023. A Partial Decipherment of the Unknown Kushan Script, Transactions of the Philological Society 121.2, Article DOI: 10.1111/1467-968X.12269

https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1467-968X.12269

Wissenschaftsnachrichtenvideo:

https://youtu.be/iU3vzqpbaws

Weitere Informationen zur Geschichte des Kuschana-Reichs und zur Entzifferung:

https://story.uni-koeln.de/die-unbekannte-kuschana-schrift-entziffert/

Verantwortlich: Dr. Elisabeth Hoffmann – e.hoffmann@verw.uni-koeln.de

Presse und Kommunikation:
Dr. Elisabeth Hoffmann
+49 221 470-2202 
e.hoffmann@verw.uni-koeln.de 
V.i.S.d.P.: Dr. Elisabeth Hoffmann
Weitere Storys: Universität zu Köln
Weitere Storys: Universität zu Köln
  • 11.07.2023 – 12:29

    Männliche Keimzellen sind hauptverantwortlich für Genveränderungen

    Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligt der Arbeitsgruppe des Kölner Genetikers und Forschers am Alternsforschungs-Exzellenzcluster CECAD, Professor Dr. Björn Schumacher, eine Millionenförderung für die Aufdeckung der Mechanismen der mütterlichen und väterlichen genetischen Vererbung / 1,25 Millionen Euro über fünf Jahre Die Deutsche ...

  • 27.06.2023 – 12:37

    James Webb-Weltraumteleskop entdeckt elementares Kohlenwasserstoffmolekül

    Forschende der Kölner Astrophysik waren am aktuellen Fund beteiligt / Die Existenz dieses Moleküls im All wurde bereits in den 1970er Jahren vorhergesagt und konnte nun erstmals nachgewiesen werden Das James Webb-Weltraumteleskop hat das Kohlenwasserstoffmolekül CH3+ in einem 1500 Lichtjahre entfernten, neu entstehenden Sonnen- und Planetensystem entdeckt. CH3+ ist ...

  • 02.06.2023 – 12:22

    Corona-Schulschließungen beeinflussten Arbeitszeit der Eltern

    Die Anforderungen an Eltern, ihre Kinder während des Lockdowns 2020 zuhause zu betreuen, wirkte sich direkt auf ihre Arbeitszeiten aus. Dabei waren erwerbstätige Mütter und Väter gleichermaßen betroffen / Veröffentlichung im „Journal of European Social Policy“ Eine neue Studie zeigt, dass die Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen in ...